Jungfrauensohn und Krippenkind.
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Philo und gewiß auch andere hellenistische Juden in die Geburts-
erzählungen der Erzväter hinein interpretierten, war vielen heiden-
christlichen Lesern der Marienlegende wohl minder vertraut als die
in griechischen Sagen auf historische Personen angewandte Vor-
stellung von der Vermählung eines Unsterblichen mit einem mensch-
lichen Weibe. Darum mußte die Marienlegende, die nicht mythi-
schen Ursprungs war, mythisch interpretiert werden; darum mußte
der Stoff immer mehr mit mythisch-synkretistischen Vorstellungen
gefüllt werden. Das zeigt sich unserem Blick an dem apologetischen
Bericht Mt. 1, 18ff. zuerst mit voller Deutlichkeit, weil hier wie
in jenen griechischen Sagen das Interesse des irdischen Vaters in
den Vordergrund tritt. Trotzdem muß hervorgehoben werden, in
wie geringem Grade dieser Bericht die Spuren unmittelbaren syn-
kretistischen Einflusses zeigt. Vor allem erzählt auch er noch mittel-
bar von der Erzeugung; das Unsagbare ist ihm noch nicht sagbar
geworden. Wenn die Lukas-Legende das Wunder nur ankündigte,
so wird auch der Leser des Matthäus noch nicht zum Zeugen dieses
Geschehens; es liegt bereits in der Vergangenheit, und nur seine
Folgen werden berichtet. Sodann ist der göttliche Faktor noch
keineswegs in mythischer Personifizierung dargestellt; vom heiligen
Geist ist die Rede und nicht von einem göttlichen Liebhaber. End-
lich kommt in der Namensdeutung — Jesus, der Erretter des Volkes
von seinen Sünden — immer noch das Heilsinteresse zur Geltung,
wenn auch nicht so überragend wie in der Verkündigungslegende.
Immerhin ist die Erzählung vom Jungfrauensohn damit in die
Nähe „heidnischer“ Stoffe gelangt. Es konnte nicht fehlen, daß
sich dies in der weiteren Entwicklung geltend machte. In der Tat
zeigen Texte des zweiten Jahrhunderts eine Zunahme der synkreti-
stischen Motive. Von zwei Tendenzen scheint die Entwicklung
dabei bestimmt zu sein. Die eine Tendenz, die man die legendäre
nennen könnte, wendet die Motive der Marienlegende auf die Geburt
Jesu an. Eine andere als mythisch zu bezeichnende Tendenz führt
zu einer Schilderung der Empfängnis, die in die Verkündigungs-
szene hineinverlegt wird.
Die legendäre Entwicklung wird am besten gekennzeichnet
durch das Wort der Maria zum Engel in der ältesten uns bekannten
Schrift, die ein Marienleben bis zur Geburt Jesu bietet, dem sog.
Protevangelium des (Pseudo-) Jakobus 11, 2: „soll ich empfangen
von dem lebendigen Gott und gebären wie jedes Weib gebiert ?“
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., phil.-histor. Kl. 1931/32. 4. Abh.
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Philo und gewiß auch andere hellenistische Juden in die Geburts-
erzählungen der Erzväter hinein interpretierten, war vielen heiden-
christlichen Lesern der Marienlegende wohl minder vertraut als die
in griechischen Sagen auf historische Personen angewandte Vor-
stellung von der Vermählung eines Unsterblichen mit einem mensch-
lichen Weibe. Darum mußte die Marienlegende, die nicht mythi-
schen Ursprungs war, mythisch interpretiert werden; darum mußte
der Stoff immer mehr mit mythisch-synkretistischen Vorstellungen
gefüllt werden. Das zeigt sich unserem Blick an dem apologetischen
Bericht Mt. 1, 18ff. zuerst mit voller Deutlichkeit, weil hier wie
in jenen griechischen Sagen das Interesse des irdischen Vaters in
den Vordergrund tritt. Trotzdem muß hervorgehoben werden, in
wie geringem Grade dieser Bericht die Spuren unmittelbaren syn-
kretistischen Einflusses zeigt. Vor allem erzählt auch er noch mittel-
bar von der Erzeugung; das Unsagbare ist ihm noch nicht sagbar
geworden. Wenn die Lukas-Legende das Wunder nur ankündigte,
so wird auch der Leser des Matthäus noch nicht zum Zeugen dieses
Geschehens; es liegt bereits in der Vergangenheit, und nur seine
Folgen werden berichtet. Sodann ist der göttliche Faktor noch
keineswegs in mythischer Personifizierung dargestellt; vom heiligen
Geist ist die Rede und nicht von einem göttlichen Liebhaber. End-
lich kommt in der Namensdeutung — Jesus, der Erretter des Volkes
von seinen Sünden — immer noch das Heilsinteresse zur Geltung,
wenn auch nicht so überragend wie in der Verkündigungslegende.
Immerhin ist die Erzählung vom Jungfrauensohn damit in die
Nähe „heidnischer“ Stoffe gelangt. Es konnte nicht fehlen, daß
sich dies in der weiteren Entwicklung geltend machte. In der Tat
zeigen Texte des zweiten Jahrhunderts eine Zunahme der synkreti-
stischen Motive. Von zwei Tendenzen scheint die Entwicklung
dabei bestimmt zu sein. Die eine Tendenz, die man die legendäre
nennen könnte, wendet die Motive der Marienlegende auf die Geburt
Jesu an. Eine andere als mythisch zu bezeichnende Tendenz führt
zu einer Schilderung der Empfängnis, die in die Verkündigungs-
szene hineinverlegt wird.
Die legendäre Entwicklung wird am besten gekennzeichnet
durch das Wort der Maria zum Engel in der ältesten uns bekannten
Schrift, die ein Marienleben bis zur Geburt Jesu bietet, dem sog.
Protevangelium des (Pseudo-) Jakobus 11, 2: „soll ich empfangen
von dem lebendigen Gott und gebären wie jedes Weib gebiert ?“
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., phil.-histor. Kl. 1931/32. 4. Abh.
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