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Dibelius, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1931/32, 4. Abhandlung): Jungfrauensohn und Krippenkind: Untersuchungen zur Geburtsgeschichte Jesu im Lukas-Evangelium — Heidelberg, 1932

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https://doi.org/10.11588/diglit.40162#0060
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Martin Dibelius:

zu klein1! Also ist des Textes Meinung eine andere. Nicht die Über-
siedlung in einen anderen Raum soll begründet werden, sondern
die Unterbringung des Kindes in der Krippe. Das „Zeichen“, das
der Engel dann den Hirten kündet, soll in die Erzählung eingeführt
werden, nicht aber eine beliebige Ortsangabe, deren im weiteren
Verlauf der Ereignisse überhaupt nicht mehr gedacht wird. Es
mangelt also nicht an Raum für die Geburt, sondern an einem
passenden Platz für das Neugeborene. In dem Raum, in den Maria
und Josef eingekehrt sind, findet sich für die Bergung des kleinen
Kindes nichts Geeigneteres als die „Krippe“, nicht ein üblicher
Behälter für einen Säugling, aber doch der leidlichste, den man im
Augenblick finden kann. Das Kind in der Krippe verrät also weder
übergroße Armut noch überstarken Zustrom von Menschen in der
Unterkunft, sondern nur die bedrängten Umstände des Augenblicks,
da eine junge Frau auf der Reise am unbekannten Ort ihr Erst-
geborenes zur Welt bringt. Vorausgesetzt ist dabei auch nicht,
daß das κατάλυμα im Grunde ein Stall ist; es handelt sich offenbar
um den großen Wohnraum des damaligen jüdischen wie des heu-
tigen palästinensischen Bauernhauses2, in dem die Menschen auf
einer 60—100 cm erhöhten Terrasse (arabisch mastaba), die Tiere
zu ebener Erde (arabisch ka‘ el-bet) Platz finden. In ihm sind
Futtertröge in Nischen der Wand, am Rand der Terrasse oder auf
dem Boden angebracht.
Der Sinn der Stelle ist also dieser: sie hatten dort, wo sie
eingekehrt waren, zur Unterbringung des Kindes keinen
anderen Platz als die Krippe. Wem der Raum gehörte, wer
die Eltern Jesu beherbergte, das wird vom Erzähler nicht berichtet.
Und doch bedarf man dieses Berichtes. Denn der Engel gibt den
Hirten auf dem Feld als Zeichen an: „ihr werdet finden ein Kind
gewickelt und in einer Krippe liegend“. Und die Hirten „kamen
1 Bezeichnenderweise wünscht sich Dalman (Orte und Wege Jesu3 45)
im Interesse der Klarheit einen Text, der etwa so lauten würde: „sie gebar
ihren erstgeborenen Sohn in einem Stall (oder in einer Höhle), denn sie hatten
keinen Raum in der Herberge“. Das steht aber eben nicht da! Dalmans
Interpretation ist von dem Wunsch geleitet, die altkirchliche, durch die Lokal-
tradition gestützte Nachricht von der Geburt Jesu in einer Höhle mit dem
Lukastext vereinigen zu können. Die Lukaserzählung und die Überlieferung
von der Höhle haben aber, wie sich noch zeigen wird, nichts miteinander
zu tun.
2 Vgl. Karl Jäger, Das Bauernhaus in Palästina 25f.; Dalman, Orte
und Wege Jesu3 44L; Johannes Jeremias, Das Evangelium nach Lukas 38
(auf Grund einer Untersuchung des Arbeiterdorfes Der Jassin bei Jerusalem).
 
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