Paulus auf dem Areopag.
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als ein Fremdling im Neuen Testament. Aus dieser Erkenntnis
gilt es Folgerungen geschichtlicher wie literarischer Art zu
ziehen — und ihnen wenden wir uns nunmehr zu.
Das geschichtliche Problem besteht in der Frage, ob der Apo-
stel Paulus diese Rede hat halten können. Denn diese Frage steht
im Vordergrund — und nicht die andere, ob er in Athen über-
haupt eine Rede gehalten habe und ob — um mit den Worten
einer bekannten Akademie-Abhandlung von Ernst Gurtius zu
reden — hier „ein wohl unterrichteter Zeuge wahrheitsgetreu den
Vorgang schildere“1. Denn diese letzte Frage muß von den Quellen,
der Technik und den literarischen Möglichkeiten der Apostel-
geschichte aus angesehen werden; das soll nachher geschehen. Fürs
erste aber ist Paulus, der Paulus der echten Briefe, darüber zu be-
fragen, wie er das Thema der Areopagrede angesehen hat.
Auch Ernst Curtius hat die Paulusbriefe befragt, aber unter
einem besonderen Gesichtspunkt. Er sagt von der Areopagrede,
und mit Recht, sie suche das religiöse Leben der Heidenwelt ge-
schichtlich zu begreifen. Und er fügt hinzu: „Das sind Gesichts-
punkte, welche nur einem mit hellenischer Bildung vertrauten
Geiste vorschweben konnten“. Von dieser Erkenntnis aus ver-
sucht Curtius aus den Paulusbriefen den Nachweis zu führen, daß
der Apostel von dieser Bildung beeinflußt worden sei.
Aber die Frage, ob Paulus mit philosophischen Gedanken in
solchem Maß bekannt gewesen sei, wie es die Areopagrede voraus-
setze, ist nicht die entscheidende. Jener von Curtius versuchte
Nachweis erstreckt sich auch gar nicht auf die eigentliche Mitte
der paulinischen Botschaft, die Verkündigung des neuen in Christus
erschienenen Heiles, und auf ihre Voraussetzungen. Sondern Cur-
tius ist genötigt, bei den ermahnenden Teilen der Paulusbriefe
einzusetzen, bei der Paränese, von der wir heute die wohlbegründete
Meinung haben, daß sie gar nicht selbständig von Paulus geschaf-
fen, sondern zum guten Teil aus der Tradition der Christen, der
Juden und der griechischen Philosophen übernommen sei. Da
findet sich selbstverständlich manches griechische, besser gesagt:
manches hellenistische Gedankengut2. Und das gleiche gilt von der
1 Ernst Curtius, Paulus in Athen. Sitzungsberichte der Berliner Aka-
demie 1893, 925—938.
2 Gleich die erste Stelle, auf die Curtius verweist, Phil. 4, 8, enthält
in der Tat eine Aufzählung von Begriffen hellenistischer Moralphilosophie: das
hei Paulus einzige Vorkommen des Wortes αρετή, des „natürlichen Leitmotivs
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als ein Fremdling im Neuen Testament. Aus dieser Erkenntnis
gilt es Folgerungen geschichtlicher wie literarischer Art zu
ziehen — und ihnen wenden wir uns nunmehr zu.
Das geschichtliche Problem besteht in der Frage, ob der Apo-
stel Paulus diese Rede hat halten können. Denn diese Frage steht
im Vordergrund — und nicht die andere, ob er in Athen über-
haupt eine Rede gehalten habe und ob — um mit den Worten
einer bekannten Akademie-Abhandlung von Ernst Gurtius zu
reden — hier „ein wohl unterrichteter Zeuge wahrheitsgetreu den
Vorgang schildere“1. Denn diese letzte Frage muß von den Quellen,
der Technik und den literarischen Möglichkeiten der Apostel-
geschichte aus angesehen werden; das soll nachher geschehen. Fürs
erste aber ist Paulus, der Paulus der echten Briefe, darüber zu be-
fragen, wie er das Thema der Areopagrede angesehen hat.
Auch Ernst Curtius hat die Paulusbriefe befragt, aber unter
einem besonderen Gesichtspunkt. Er sagt von der Areopagrede,
und mit Recht, sie suche das religiöse Leben der Heidenwelt ge-
schichtlich zu begreifen. Und er fügt hinzu: „Das sind Gesichts-
punkte, welche nur einem mit hellenischer Bildung vertrauten
Geiste vorschweben konnten“. Von dieser Erkenntnis aus ver-
sucht Curtius aus den Paulusbriefen den Nachweis zu führen, daß
der Apostel von dieser Bildung beeinflußt worden sei.
Aber die Frage, ob Paulus mit philosophischen Gedanken in
solchem Maß bekannt gewesen sei, wie es die Areopagrede voraus-
setze, ist nicht die entscheidende. Jener von Curtius versuchte
Nachweis erstreckt sich auch gar nicht auf die eigentliche Mitte
der paulinischen Botschaft, die Verkündigung des neuen in Christus
erschienenen Heiles, und auf ihre Voraussetzungen. Sondern Cur-
tius ist genötigt, bei den ermahnenden Teilen der Paulusbriefe
einzusetzen, bei der Paränese, von der wir heute die wohlbegründete
Meinung haben, daß sie gar nicht selbständig von Paulus geschaf-
fen, sondern zum guten Teil aus der Tradition der Christen, der
Juden und der griechischen Philosophen übernommen sei. Da
findet sich selbstverständlich manches griechische, besser gesagt:
manches hellenistische Gedankengut2. Und das gleiche gilt von der
1 Ernst Curtius, Paulus in Athen. Sitzungsberichte der Berliner Aka-
demie 1893, 925—938.
2 Gleich die erste Stelle, auf die Curtius verweist, Phil. 4, 8, enthält
in der Tat eine Aufzählung von Begriffen hellenistischer Moralphilosophie: das
hei Paulus einzige Vorkommen des Wortes αρετή, des „natürlichen Leitmotivs