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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0009
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Euripides’ Medea

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Bühnendichtung außerhalb der eigentlichen Theatertradition - also in
der Literarkritik, in nichtdramatischen Literaturgattungen, in der ethi-
schen Theorie - nicht so sehr als Träger kunstvoll gestalteter Handlungs-
abläufe3. Sie beschäftigen Phantasie und Reflexion wegen der ungewöhn-
lichen und doch erfahrbaren Wege menschlichen Fühlens und Trach-
tens, die in ihrem Handeln und Leiden sichtbar werden.
Wir wollen uns darum heute die Frage vorlegen, in welcher Weise die
unerhörte Tat der Medea bei Euripides und bei seinen vielen direkten
oder indirekten Nachfolgern aus dem Wesen der Heldin motiviert wird.
Vielleicht führt die präzise Erfassung eines hier vorliegenden Wandels
gleichfalls zu einem besseren Verständnis des euripideischen Dramas.
Es darf als sicher gelten, daß der Mord an den Kindern zum Zweck
der Bestrafung des ungetreuen Jason eine Erfindung des Euripides ist.
Ältere, uns noch greifbare Versionen der Geschichte Medeas in Korinth
kennen entweder die versehentliche Tötung der Kinder durch die Mut-
ter, die ihnen durch ihre Zauberkunst Unsterblichkeit verschaffen will,
oder es sind die Korinther, die aus Abscheu gegen die unter ihnen le-
bende Barbarin Hand an die Kinder legen4. Euripides’ Erfindung
machte sogleich ungeheueren Eindruck. Unmittelbar im Anschluß an
die Aufführung seiner 'Medea’ i.J. 431 v. Chr. setzt die lange Reihe
der Medea-Tragödien und parodierenden Medea-Komödien ein, ebenso
die vergleichbare Reihe bildlicher Darstellungen, vor allem in der
Vasenmalerei, die Medea unmittelbar vor oder gar bei der Ermordung
ihrer Kinder vorführen5.
Erst bei Euripides also stellte sich die Frage, wie denn eine Frau be-
schaffen sein müsse, die sich zu einer solch’ unerhörten Tat getrieben
sieht, und es hat seither kein Medea-Drama gegeben, in dem nicht auf
eben diese Frage eine Antwort gegeben wird. Sucht man die vielen be-
kannten Medea-Dramen nach der in ihnen erteilten Antwort auf diese
psychologische oder charakterologische Frage zu klassifizieren, er-
geben sich unschwer drei Gruppen:
1) Medea ist ein göttliches oder dämonisches Wesen übermensch-
licher Macht und Dignität, Verwandte der Hekate, Enkelin des Sonnen-
gottes aus fernem Wunderland. Der Liebesbund, der sie mit Jason,
einem Menschen weit kleineren Zuschnittes verbindet, ist durch Taten
besiegelt, die im Guten wie im Schlimmen einer Bewertung nach den
üblichen Kategorien menschlichen Handelns spotten. Um den Geliebten
vor sicherem Untergang zu retten, hat sie den Vater betrogen, ihr Land
um seinen teuersten Besitz gebracht, den Bruder auf grausame Weise
getötet. Um dem Geliebten späte Genugtuung für empfangene Krän-
 
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