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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0040
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Albrecht Dihle

ständnis der Frauen für Medeas Wesen und Wollen.
24 Plutarch zitiert im Traktat de cohibenda ira (453 F) einen anonymen Dramen
vers (Tr. G.F. 131 F 1), des Tragikers Melanthios von Rhodos, eines Schülers des
Karneades, für den im 2. Jh. v. Chr. ein tragischer Sieg zu belegen ist (vgl. Rh
Mus. 119,1976,148). Das Zitat wird de ser. num. vind. 551 A wiederholt und lautet
ό θυμός ,,τά δεινά πράσσει τάς φρένας μετοικίσας“, was Plutarch noch dahir
verschärft, daß dem θυμός nicht ein μετοικίζειν, ein „Verrücken“ des Verstandes
sondern ein gänzliches έξοικίζειν zugeschrieben wird. Wilamowitz (Herrn. 29.
1894, 150/54 = Kl. Schriften 2, 90ff.) hat wahrscheinlich gemacht, daß es sich da-
bei um ein Medea-Drama gehandelt habe, das freilich von der 'Medea’ des Mor-
simos oder Melanthios, auf die Aristophanes anspielt, zu trennen ist. Trifft diese
Zuweisung zu, so gibt es ein Zeugnis mehr dafür, daß man sich gerade an der
'Medea’ die der vulgären und der philosophischen Ethik seit alters geläufige
Maxime klar machte, daß der Verstand das Gute, die aus der Kontrolle des Ver-
standes ausgebrochene Emotion das Schlimme bewirke, wobei das Schlimme im
Fall der Medea natürlich nur der Kindermord sein konnte. Daß man auch die
'Medea’ des Euripides so verstand, lag um so näher, als gerade dieser Dichter
die geschilderte moralische Bewertung der Rollen des Verstandes und der Emo-
tion immer wieder in sententiöser Formulierung zum Ausdruck gebracht hatte
(vgl. fr. 257; 718; 840; 841 Nauck mit der Erläuterung des Albinos).
25 Aus einer Notiz in der 'Rhetorik’ des Aristoteles (1400 b 9 ff.) und der Erläuterung
der Stelle durch einen anonymen Kommentator (C.A.G. XXI 2 p. 146, vgl. Tr.
G. F. 70 F 1 e) erfahren wir, daß in der 'Medea des Tragikers Karkinos (um
380 v. Chr.; vgl. T. B. L. Webster, Herrn. 82, 1954, 300f.) Medea die Kinder tötete,
bevor sie nach der Überbringung der tödlichen Brautgaben von den aufgebrach-
ten Korinthern umgebracht werden konnten. Dieses habe Medea am Schluß des
Stückes den Korinthern auch dargelegt.
Karkinos scheint also Medea vom Makel des vorsätzlich geplanten Kinder-
mordes befreit oder ihr doch mindestens eine Rede in den Mund gelegt zu haben,
in der sie die Tat in der angegebenen Weise entschuldigte. Das Motiv einer Tötung
der Kinder durch die Korinther war alt (schol. E. Med. 264, dazu Page, Intro-
duction XXII f.), und Euripides verwendet es, nach zwei vorbereitenden Andeutun-
gen (782; 1061 f.), um Medeas letzten Entschluß in der von ihr selbst geschaffenen,
ausweglosen Lage zu begründen (1238 μή . .. έκδοΰναι τέκνα άλλη φονεϋσαι
δυσμενεστέρα χερί). Die Tragik dieses letzten Entschlusses liegt aber bei Euri-
pides gerade darin, daß er genau dem vorgefaßten Plan der Medea entspricht,
dessen vollständige Ausführung ihre Gefühle verhindern wollten, aber nur ver-
zögern konnten. Karkinos’ Entwurf, wenn es bei ihm denn wirklich entscheidend
auf das προαναιρεθήναι der Kinder durch die Hand der Mutter ankam, mindert
die tragische Wirkung erheblich.
Bei Euripides liegt in den Worten, die Medea unmittelbar vor der Tat an den
Chor richtet (1235ff.), alles Gewicht auf der Zwangslage, in die sich Medea selbst
gebracht hat. Der Tod der Kinder ist unvermeidlich πάντως σφ’ άνάγκη
κατθανεΐν (1240), es bedarf unverzüglicher Entscheidung (δέδοκται τουργον ώς
τάχιστα μοι 1236), der Tod der Kinder durch die Hand der Mutter kommt nur
noch ihrer Tötung durch eine δυσμενεστέρα χειρ (1239) zuvor. Aus dem Konflikt
zwischen Plan und Gefühl ist der ebenso schmerzhafte Widerstreit zwischen Ge-
fühl und Notwendigkeit geworden, in dem Medea ihre Empfindungen, die der Tat
 
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