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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 3. Abhandlung): Zeit und Geschichte bei Augustin: vorgetragen am 14. Juli 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47817#0020
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Ernst A. Schmidt

dehnungsproblematik der Gegenwart gilt; sie kreuzen einander in der
Weise, daß die bei Zukunft und Vergangenheit vorstellbare Aus-
dehnung deren Sein voraussetzt (vgl. conf. 11, 21, 27), nicht aber darin,
daß das Sein der Gegenwart ihre Ausdehnung voraussetzt19.
Die erste Voraussetzung bereitet Denkschwierigkeiten, weil wir
von Zukünftigem (als noch nicht Seiendem) und Vergangenem (als
nicht mehr Seiendem) sagen müssen, daß sie nicht sind20. Augustin
löst diese Schwierigkeit, indem er die drei Zeiten Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft in die Seele hereinnimmt und als drei ver-
schiedene Weisen von Gegenwart betrachtet, nämlich als gegenwär-
tige Erinnerung, als gegenwärtige Wahrnehmung und als gegenwärtige
Erwartung: „tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de
praesentibus, praesens de futuris. sunt enim haec in anima tria quae-
dam et alibi ea non video, praesens de praeteritis memoria, praesens de
praesentibus contuitus, praesens de futuris expectatio“ (conf. 11, 20,
26).
Man kann die Schwierigkeit, wie sie sich Augustin darstellte, und
Elemente ihrer Lösung kritisieren. Das hat Duchrow getan21, aber
seine Kritik geht von problematischen Voraussetzungen und Erwar-
tungen aus.
(1) Augustin habe die Seinsfrage mit der Tradition der griechischen
Ontologie, die Sein als Gegenwart denke22, gestellt und zu lösen ver-
19 Vgl. Schaeffler, Geschichtszeit, S. 196: „Ein zeitlich erstrecktes Sein erscheint also
als Contradictio in adiecto: zeitliches Wirklichsein ist Gegenwärtigsein, Gegenwär-
tigsein aber schließt Erstreckung aus“. Vgl. die genaue Analyse bei O’Daly, A. on
Measurement of Time, S. 172.
20 Die dritte Schwierigkeit, die Flüchtigkeit der Gegenwart, daß sie nämlich darin ihr
Sein und Zeitsein hat, daß sie Vergangenheit, also Nichtseiendes, wird (conf. 11,14,
17; p. 275,25-30), übergehe ich, weil sie von Augustin nicht ausdrücklich überwun-
den wird. Implizit hebt sie sich analog zur Lösung der Ausdehnungsproblematik
auf: die Flüchtigkeit von Präsenz wird in der „memoria“ stabil.
21 Andere sind gefolgt; vgl. z. B. Flasch, Augustin, S. 269ff. zu Augustins Denkfehlern.
22 So auch schon Kamlah, Christentum und Geschichtlichkeit, S. 224ff. Beide in der
Wirkung von Heidegger, Sein und Zeit, S. 25: Bei der „Interpretation des Bodens
der antiken Ontologie im Lichte der Temporalität [... ] wird offenbar, daß die antike
Auslegung des Seins des Seienden [... ] das Verständnis des Seins aus der ,Zeit‘
gewinnt. [... ] Seiendes ist in seinem Sein als Anwesenheit1 gefaßt, d. h. es ist mit
Rücksicht auf einen bestimmten Zeitmodus, die ,Gegenwart1, verstanden“. Vgl.
Helene Weiss, The Greek conceptions oftime and being in the light of Heidegger’s
philosophy, Phil. Phenom. Res. 2 (1941/42), S. 173-187: die gesamte griechische
Philosophie, von Parmenides bis Plotin, habe das Sein unausgesprochen als Zeit
gedacht; Ernst Tugendhat, TI KATA TINOS. Eine Untersuchung zu Struktur und
 
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