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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 3. Abhandlung): Zeit und Geschichte bei Augustin: vorgetragen am 14. Juli 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47817#0034
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Ernst A. Schmidt

rhetorischen Tradition (Raummetaphorik; Abdrucktheorie) noch seinen selbstver-
ständlichen Umgang mit dem wirwoi^-Theorem entgegen Plotins Ablehnung; er
kann auch den ävapvr)ai<;-Charakter von Erkenntnis (incl. Gotteserkenntnis) auf-
grund präexistenter Einsicht mit keiner Äußerung Augustins weder in Buch X
noch sonst in den Confessiones (wo man etwas Derartiges in den Visionsberichten
von VII und IX erwarten müßte) belegen. Der einzige ,Innatismus‘-Passus in conf.
10, 20, 29 läuft gerade nicht entschieden auf die Feststellung hinaus: „We pre-
existed as happy souls before falling in our embodied misery“ (O’Connell, S. 129),
sondern läßt, nach dem Geständnis „nescio quomodo noverunt eam“ (sc. beatam
vitam) - das im Kontext der Überzeugung von Präexistenz und Anamnesis ab-
wegig wäre - die Frage als jetzt nicht interessierend offen („non quaero nunc“), ob
wir einst einzeln alle glücklich waren oder „in illo homine, qui primus peccavit, in
quo et omnes mortui sumus et de quo omnes cum miseria nati sumus“. Zu welcher
Auffassung Augustin hinneigt, wird mit dieser Reihenfolge und Gewichtung deut-
lich genug. Das gleiche gilt für civ. 12,21, wo ebenfalls die selige Präexistenz der
Seele nur eine um der Vollständigkeit der Argumentation mit hinzugenommene
hypothetische Alternative („si autem dicunt [... ]“) zu der Feststellung ist, daß das
Menschengeschlecht einen Anfang in der Zeit hat und „beatitudo“ vor der Er-
lösung nie kennengelernt hat. Die menschliche Seele ist ein Geschöpf Gottes und
hat als solches einen zeitlichen Anfang. Diese eindeutige Aussage von civ. 11,4 und
22, sowie civ. 12,4 ist gerade auch im Zusammenhang der Schöpfüngstheologie von
conf. 11-13 auch für die Confessiones schon gegeben; vgl. conf. 11, 31, 41: „creatori
mentium“. Augustins Nichtwissen hinsichtlich des Woher seiner Ankunft in dieses
Leben (conf. 1, 6, 7, p. 5,16 sq.) und der Frage, ob seinem Dasein im Mutterleib
schon eine andere „aetas“ vorausgegangen sei, ein Wo und ein Wer (conf. 1, 6, 9, p.
7,5-11), läßt nichts von platonisch-plotinischer Präexistenzlehre erkennen oder
erschließen und ihre Übernahme als plausibel erscheinen. Zwar hatte Augustin in
sol. 2,20,35 und quant. an. 20,34 die Anamnesislehre nach Plato vertreten - was er
retract. 1,4,4 und 1,8,2 zurückweist (keine Präexistenz, kein früheres Wissen) -, aber
das waren eben Schriften der intensivsten neuplatonischen Lebensphase (386-
388), mit denen man die Confessiones, die ein Jahrzehnt später entstanden, nicht
ohne weiteres philosophisch-theologisch gleichsetzen darf. Die diesseitige Existenz
ist nicht die Folge des Sündenfalls; der Irrweg, von dem wir umkehren, ist nicht das
körperliche Dasein; „reddentes nos, unde sumus“ (conf. 11, 8, 10, p. 271,5 sq.) ist
nicht ein Testimonium für Präexistenz (so jedoch O’Connell, S. 137), indem hier
Erkenntnis als erinnernde Rückkehr zur „beata vita“ der Seele vor ihrer Einkör-
perung verstanden wäre, sondern spricht vom Glauben als Rückkehr zu unserem
Schöpfer, dem Wort, das die Wahrheit ist. O’Connell beachtet nicht, daß die
„memoria“ Gott enthält, „ex quo didici te“ (conf. 10, 24, 35, p., 236,4; vgl. conf. 10,
26, 37), „seit der Zeit, da ich dich kennen lernte“, und daß dieses Wissen gerade
nicht vergessen war („non sum oblitus tui“). Er berücksichtigt nicht, daß die Con-
fessiones darin schon den genannten Passagen der Retractationes entsprechen, daß
der Zentralbegriff die Wahrheit ist (11.cc.; conf. 3,6,10), so daß Gott gefunden wird
„in te supra me“ (conf. 10,26, 37, p. 237,5 sq.), womit gerade nicht Ideeninnatismus
und präexistente Erkenntnisinhalte ausgesagt werden. O’Connell’s richtiges
methodisches Prinzip, daß man conf. 10 nicht im Licht von trin. 11 und 12 (fast zwan-
zig Jahre später verfaßt) interpretieren dürfe, wird zum Freibrief für Plotinisieren
(die plotinische Fortführung des platonischen Menon), anstatt zu dem Programm
 
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