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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 3. Abhandlung): Zeit und Geschichte bei Augustin: vorgetragen am 14. Juli 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47817#0041
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Zeit und Geschichte bei Augustin

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Es fehlt jeder Hinweis auf den Tod als Menschenzukunft im elften
Buch der Confessiones. Das ,Sein zum Tod‘60 wird auch nicht am Rand
thematisch, um so weniger zeitliches Sein zur Erlösung aus der Zeit-
lichkeit.
Es fehlt jede spezifische Färbung der Erwartung, d. h. eine von der
Erinnerung kategorial verschiedene Zukunftshaltung. So wie es keine
neuen aus der Vergangenheit nicht erfahrenen Gegenstände gibt, so
gibt es auch keine neue Grundhaltung gegenüber der Zukunft. Augu-
stins Zeitlehre kennt weder Furcht noch Hoffnung, obwohl Augustin
sonst sowohl dem Phänomen der Zukunftssorge seine Aufmerksam-
keit zuwendet61 als auch natürlich von der Hoffnung des Christen han-
deln kann. Selbst ein so einfacher Sachverhalt wie der bei Aristoteles,
De anima 433 b 5-8 knapp formulierte taucht nicht auf, daß im Men-
schen als einem Wesen, welches xpovov atcnfricjiq hat, im Konflikt von
vovq und £7riüu|i(a der voüq auf die Zukunft schaut, daß also Triebver-

60 Brunner, Zeit u. Geschichte bei A., S. 14 und Meijering, comm. conf. XI, S. 59 (zu
conf. 11,14,17: „ut [...] non vere dicamus tempus esse, nisi quia tendit non esse“)
nennen das Sein in der Zeit bei Augustin irreführend ein ,Sein zum Tode‘. Unter
,Sein zum Tode4 haben wir Heideggers existenzial-ontologischen Daseinsentwurf
zu verstehen (Sein und Zeit § 46-53), in welchem der Tod der eigentliche Tod in
seinem ganzen Ernst ist, nicht jedoch die hier und an den von Meijering angeführ-
ten Stellen (Sermo 108,5; 109,4; 217,3; En. in Ps. 101,10 (II); civ. 13,10) - vgl. ferner
bes. conf. 1,6,9: „infantia mea olim mortua“ und 7,1,1: „iam mortua erat adulescen-
tia mea“ neben conf. 11, 18, 23: „pueritia [... ] mea [... ] iam non est“ - gemeinte
und etwa auch aus Senecas Luciliusbriefen (epist. 1,2; 24,20; 58,23: „Cotidie mori-
mur; cotidie enim demitur aliqua pars vitae, [...]. Infantiam amisimus, deinde
pueritiam, [... ]“) und Marc Aurels Betrachtungen (3,1) vertraute Vorstellung des
Absinkens gelebten Lebens ins Nichtsein, die bei jenen Philosophen das Leben
gerade nicht als ,Sein zum Tod4, sondern als tägliches Sterben versteht; und mit
dieser Betrachtungsweise soll dem einmal zu sterbenden Tod sein Schrecken
genommen werden. - Statt dieser grundsätzlichen Zurückweisung hätte auch der
Hinweis genügt, daß Augustin in conf. 11,14,17 nicht vom menschlichen „Sein in
der Zeit“, sondern von der Zeit handelt und daß seine Äußerung als aporetisch und
vom Fortgang seines Nachdenkens überholt gar nicht als ein Element seiner Lehre
ausgegeben werden darf: gerade das „non esse“ der Zeit des Vergangenen wird von
Augustin ja überwunden. - Wie Meijering, aber von vornherein generell von der
augustinischen Zeit, auch Boros, Temporalite chez A., S. 339ff., der für den
menschlichen „cursus ad mortem“ über Heidegger hinaus auf die Vorgängerformel
„Krankheit zum Tode“ Kierkegaards zurückgreift, und Lampey, Zeitproblem nach
conf, passim. - Augustin zum menschlichen Leben als „cursus ad mortem“: civ.
13,10.
61 Vgl. z.B. De libero arbitrio 3,61,210ff.
 
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