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Ernst A. Schmidt
zitat Aufhebung der Zeit, nicht Inhalt oder Ergänzung ihrer Zukunft.
Duchrow hat diesen von ihm als Fehlen der heilsgeschichtlichen Zeit
kritisierten Befund klar gesehen82.
Es ist wohl auch, angesichts der kalkulierten Zitierweise Augustins
in den Confessiones83, kein Zufall, daß die Vision von Ostia im neun-
ten Buch vom gleichen Zitat des Philipperbriefs eingeleitet wird (conf.
9, 10, 23): „conloquebamur [...] et praeterita obliviscentes in ea quae
ante sunt extenti84 quaerebamus inter nos apud praesentem veritatem,
quod tu es, qualis futura esset85 vita aeterna sanctorum [... ]“. Was so
82 Duchrow, Sog. psycholog. Zeitbegriff A.s, S. 284. Seine Diagnose ist deshalb schief,
weil er a) den beobachteten Mangel dem angeblichen Nichtsein der (objektiven)
Zukunft bei Augustin anlastet und dieses wieder seiner Verhaftung in der griechi-
schen Ontologie und b) weil er heilsgeschichtliches Denken als Grunderfahrung
bei Augustin wie ein Axiom postuliert bzw. fraglos als selbstverständlich nimmt
und deshalb in conf. 11 „apokalyptische“ Verfälschung christlicher „Eschatologie“
feststellen muß, womit er den Austausch echter christlicher Zukunft durch die
ewige Gegenwart Gottes in griechischem Sein versteht. (Die Opposition von Apo-
kalypse und Eschatologie als griechisches Sein und christliche Geschichte ist eigen-
tümlich). Warum sollte Augustin denn sonst, wenn er von Gottes Ewigkeit und der
Zeit der Menschen handelt, sich von den Prämissen der griechischen Ontologie
befreit und auf ungriechische Weise Heilsgeschichte gedacht haben können? - Das
Mißverständnis des „ante“ von Phil 3,13 (statt Zukunft Ewigkeit) ist im übrigen
nicht auf die Zeitabhandlung der Confessiones und ihre (angeblichen) Denk-
zwänge beschränkt, sondern - Duchrow, a.O. und O’Daly, Distentio, S. 269ff. ver-
weisen darauf - auch in verschiedenen anderen Texten, zumal Psalmenauslegun-
gen, zu finden. Vgl. bes. Enarratio in Ps. 89,5 (eine Auslegung etwa aus dem Jahre
415 n. Chr., als die ersten Bücher „De civitate Dei“ bereits geschrieben waren und
der Plan des ganzen Werkes feststand): die vergangenen Dinge, die Augustin wie
der Apostel vergißt, sind „temporalia cuncta“, die gesamte, auch die noch nicht
abgelaufene Weltzeit, die Zeit und alles, was sie enthält, während die Dinge, denen
die Aufmerksamkeit1 gilt, die „aeterna“ sind („in ea quae ante sunt extenti, quae
appetitio est aeternorum“). Vgl. auch sermo 255,6,6: „unum nos extendat, ne multa
distendant et abrumpant ab uno“. - Die Pointe der obigen Deutung erhellt aus der
Gegenüberstellung mit Dinkler, A.s Geschichtsauffassung, S. 519: nachdem dort
ebenfalls zuerst richtig Augustins Opposition von Zeitlichem und Ewigkeit erkannt
worden ist, wird dann doch für Zeitlichkeit wieder Vergangenheit eingesetzt und so
die Zukunft als zeitliches Aussein auf Christus (Ewigkeit) gerettet und sogar zum
Nerv des augustinischen Pauluszitats gemacht.
83 Vgl. Knauer, Psalmenzitate in conf.
84 Vgl. O’Daly, Distentio, S. 269.
85 Das ewige Leben als eine Zukunft, die, da sie nicht „in cor hominis ascendit“, wie
Augustin sagt, weder die „expectatio“ von Bekanntem aus der Zeitabhandlung
noch überhaupt Element und Sinn von Zeit sein kann.
Ernst A. Schmidt
zitat Aufhebung der Zeit, nicht Inhalt oder Ergänzung ihrer Zukunft.
Duchrow hat diesen von ihm als Fehlen der heilsgeschichtlichen Zeit
kritisierten Befund klar gesehen82.
Es ist wohl auch, angesichts der kalkulierten Zitierweise Augustins
in den Confessiones83, kein Zufall, daß die Vision von Ostia im neun-
ten Buch vom gleichen Zitat des Philipperbriefs eingeleitet wird (conf.
9, 10, 23): „conloquebamur [...] et praeterita obliviscentes in ea quae
ante sunt extenti84 quaerebamus inter nos apud praesentem veritatem,
quod tu es, qualis futura esset85 vita aeterna sanctorum [... ]“. Was so
82 Duchrow, Sog. psycholog. Zeitbegriff A.s, S. 284. Seine Diagnose ist deshalb schief,
weil er a) den beobachteten Mangel dem angeblichen Nichtsein der (objektiven)
Zukunft bei Augustin anlastet und dieses wieder seiner Verhaftung in der griechi-
schen Ontologie und b) weil er heilsgeschichtliches Denken als Grunderfahrung
bei Augustin wie ein Axiom postuliert bzw. fraglos als selbstverständlich nimmt
und deshalb in conf. 11 „apokalyptische“ Verfälschung christlicher „Eschatologie“
feststellen muß, womit er den Austausch echter christlicher Zukunft durch die
ewige Gegenwart Gottes in griechischem Sein versteht. (Die Opposition von Apo-
kalypse und Eschatologie als griechisches Sein und christliche Geschichte ist eigen-
tümlich). Warum sollte Augustin denn sonst, wenn er von Gottes Ewigkeit und der
Zeit der Menschen handelt, sich von den Prämissen der griechischen Ontologie
befreit und auf ungriechische Weise Heilsgeschichte gedacht haben können? - Das
Mißverständnis des „ante“ von Phil 3,13 (statt Zukunft Ewigkeit) ist im übrigen
nicht auf die Zeitabhandlung der Confessiones und ihre (angeblichen) Denk-
zwänge beschränkt, sondern - Duchrow, a.O. und O’Daly, Distentio, S. 269ff. ver-
weisen darauf - auch in verschiedenen anderen Texten, zumal Psalmenauslegun-
gen, zu finden. Vgl. bes. Enarratio in Ps. 89,5 (eine Auslegung etwa aus dem Jahre
415 n. Chr., als die ersten Bücher „De civitate Dei“ bereits geschrieben waren und
der Plan des ganzen Werkes feststand): die vergangenen Dinge, die Augustin wie
der Apostel vergißt, sind „temporalia cuncta“, die gesamte, auch die noch nicht
abgelaufene Weltzeit, die Zeit und alles, was sie enthält, während die Dinge, denen
die Aufmerksamkeit1 gilt, die „aeterna“ sind („in ea quae ante sunt extenti, quae
appetitio est aeternorum“). Vgl. auch sermo 255,6,6: „unum nos extendat, ne multa
distendant et abrumpant ab uno“. - Die Pointe der obigen Deutung erhellt aus der
Gegenüberstellung mit Dinkler, A.s Geschichtsauffassung, S. 519: nachdem dort
ebenfalls zuerst richtig Augustins Opposition von Zeitlichem und Ewigkeit erkannt
worden ist, wird dann doch für Zeitlichkeit wieder Vergangenheit eingesetzt und so
die Zukunft als zeitliches Aussein auf Christus (Ewigkeit) gerettet und sogar zum
Nerv des augustinischen Pauluszitats gemacht.
83 Vgl. Knauer, Psalmenzitate in conf.
84 Vgl. O’Daly, Distentio, S. 269.
85 Das ewige Leben als eine Zukunft, die, da sie nicht „in cor hominis ascendit“, wie
Augustin sagt, weder die „expectatio“ von Bekanntem aus der Zeitabhandlung
noch überhaupt Element und Sinn von Zeit sein kann.