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Ernst A. Schmidt
„Numquid, domine, cum tua sit aeternitas, ignoras, quae tibi dico,
aut ad tempus vides quod fit in tempore?“ beginnt das elfte Buch der
Bekenntnisse (conf. 11,1,1) und stellt so die zu entwickelnde Zeitlehre
auf das Motiv von Gottes ewigem Wissen und der doppelten zeitlichen
Bedingtheit menschlichen Erkennens und Redens vor Gott: „videre
ad119 tempus“ (= „temporaliter videre“; vgl. conf. 13, 29, 44) auf der
Subjektseite (die personale Zeit, die ihrerseits von der Zeit der Kreatur
bedingt ist) und „quod fit in tempore“ (die Kreatur und das Geschehen
der Kreatur in der Zeit der Kreatur) auf der Objektseite. Und am
Ende des letzten Buches heißt es (conf. 13,37,52): „tu autem, domine,
semper operaris et semper requiescis nec vides ad tempus nec moveris
ad tempus et tarnen facis et visiones temporales et ipsa tempora et
quietem ex tempore“.
Die „visiones temporales“ in diesem letzten Zitat, neben „ipsa tem-
pora“ gestellt, sind nichts anderes als der personale Zeitbegriff des elf-
ten Buches. Von Gott gilt: „nec vides ad tempus“, vom Menschen gilt
„videre ad tempus“, „temporaliter videre“ oder „visio temporalis“. Das
sind die drei verschiedenen Weisen von „praesens tempus“, nämlich
„de praeteritis“, „de praesentibus“ und „de futuris“, „memoria“, „con-
tuitus“ und „expectatio“ (conf. 11, 20, 26 und 11,18, 23). In allen drei
Fällen liegt „visio“, „videre“ vor. „Visio temporalis“ oder „videre ad
tempus“ heißt also nicht allein eine durch die jeweilige Gegenwart
begrenzte „visio“ von „praesentia“ zu haben, sondern auch einer zeit-
lich dreifach gegliederten „visio“, nämlich Erinnerung, Wahrnehmung
und Erwartung und deren beständiger Variation ausgeliefert zu sein.
Die personale Zeit ist also eine „zeitliche Anschauung“, zeitlich
bedingte und differenzierte, dazu sich verändernde Erkenntnis. Augu-
stin hat die beiden erkennenden Sinneswahrnehmungen, das Sehen
und das Hören, in je verschiedener Funktion für das zeitliche Erken-
nen von Zeitlichem herangezogen. Das Sehen lieferte die Präsenz, das
Hören die Zeiterfahrung selbst; aber auch bei vergangenem und
zukünftigem Hören liegt wieder so etwas wie „visio“ vor, nämlich von
„imagines“ in der Seele.
Gott, der ewige „operator omnium temporum“ (conf. 11, 13, 15),
weiß in seiner Erkenntnis alles, was in der Zeit ist; und weil er über
aller Zeit und unzeitlich ist, ist auch seine Erkenntnis unzeitlich. Was
119
„gemäß, nach“; vgl. ad lineam, ad verbum, „De genesi ad litteram“. Zu „ad tempus'
= „temporaliter“ vgl. auch conf. 11, 6, 8 (p. 269).
Ernst A. Schmidt
„Numquid, domine, cum tua sit aeternitas, ignoras, quae tibi dico,
aut ad tempus vides quod fit in tempore?“ beginnt das elfte Buch der
Bekenntnisse (conf. 11,1,1) und stellt so die zu entwickelnde Zeitlehre
auf das Motiv von Gottes ewigem Wissen und der doppelten zeitlichen
Bedingtheit menschlichen Erkennens und Redens vor Gott: „videre
ad119 tempus“ (= „temporaliter videre“; vgl. conf. 13, 29, 44) auf der
Subjektseite (die personale Zeit, die ihrerseits von der Zeit der Kreatur
bedingt ist) und „quod fit in tempore“ (die Kreatur und das Geschehen
der Kreatur in der Zeit der Kreatur) auf der Objektseite. Und am
Ende des letzten Buches heißt es (conf. 13,37,52): „tu autem, domine,
semper operaris et semper requiescis nec vides ad tempus nec moveris
ad tempus et tarnen facis et visiones temporales et ipsa tempora et
quietem ex tempore“.
Die „visiones temporales“ in diesem letzten Zitat, neben „ipsa tem-
pora“ gestellt, sind nichts anderes als der personale Zeitbegriff des elf-
ten Buches. Von Gott gilt: „nec vides ad tempus“, vom Menschen gilt
„videre ad tempus“, „temporaliter videre“ oder „visio temporalis“. Das
sind die drei verschiedenen Weisen von „praesens tempus“, nämlich
„de praeteritis“, „de praesentibus“ und „de futuris“, „memoria“, „con-
tuitus“ und „expectatio“ (conf. 11, 20, 26 und 11,18, 23). In allen drei
Fällen liegt „visio“, „videre“ vor. „Visio temporalis“ oder „videre ad
tempus“ heißt also nicht allein eine durch die jeweilige Gegenwart
begrenzte „visio“ von „praesentia“ zu haben, sondern auch einer zeit-
lich dreifach gegliederten „visio“, nämlich Erinnerung, Wahrnehmung
und Erwartung und deren beständiger Variation ausgeliefert zu sein.
Die personale Zeit ist also eine „zeitliche Anschauung“, zeitlich
bedingte und differenzierte, dazu sich verändernde Erkenntnis. Augu-
stin hat die beiden erkennenden Sinneswahrnehmungen, das Sehen
und das Hören, in je verschiedener Funktion für das zeitliche Erken-
nen von Zeitlichem herangezogen. Das Sehen lieferte die Präsenz, das
Hören die Zeiterfahrung selbst; aber auch bei vergangenem und
zukünftigem Hören liegt wieder so etwas wie „visio“ vor, nämlich von
„imagines“ in der Seele.
Gott, der ewige „operator omnium temporum“ (conf. 11, 13, 15),
weiß in seiner Erkenntnis alles, was in der Zeit ist; und weil er über
aller Zeit und unzeitlich ist, ist auch seine Erkenntnis unzeitlich. Was
119
„gemäß, nach“; vgl. ad lineam, ad verbum, „De genesi ad litteram“. Zu „ad tempus'
= „temporaliter“ vgl. auch conf. 11, 6, 8 (p. 269).