10
Hans Robert Jauss
Das unbegründbare neue Vertrauen auf Schönheit und Glück einer
erst anhebenden, modernen Welt scheint im orphischen Dichter-
mythos Apollinaires zu gründen, nur daß es nicht mehr das lyrische
Subjekt ist, das jetzt noch die Erneuerung der Welt vollziehen kann,
wie es jener Orpheus tat, der im früheren Bestiaire die unvordenk-
lichen Tiergestalten zu benennen und umzudeuten wußte, oder wie
der Mal-Aimé in Alcools, der sich rühmte, über alle Töne der alles
verwandelnden, jede Gefahr bannenden Poesie zu verfügen7. Denn
das lyrische Subjekt in Zone ist selbst von der Entfremdung ge-
schlagen, die es als Brandmal der modernen Welt verleugnet.
Zwar weiß der Flaneur in Zone auf seinem Gang durch Paris die
Poesie der Technik und Schönheit der ‘industriellen Kunst’ allerorts zu
entdecken und zu rühmen. Doch in dem Maße, wie er die Faszination
der Metropole bis zur Neige - vom frühen Morgen der arbeitenden
Massen bis zum schalen nächtlichen Vergnügen der vom Elend
Geschlagenen - auskostet, muß er erfahren, wie sich ihm sein eigenes
Selbst entzieht, das er im Ich wie im Du seiner wechselnden Stimmen
vergeblich zur Rede zu stellen sucht8. Der durch die Stadt Streifende,
der im Strom der Menge jeden prägnanten Anblick des gegenwärtigen
Lebens euphorisch aufnimmt und genießt, scheint verdammt zu sein,
jedem erinnerten Moment seines vergangenen Lebens wie einem
fremden Ich zu begegnen9. Der hohe Preis für die unerahnte Grenz-
erweiterung der modernen Welterfahrung ist der Verlust der identitäts-
verbürgenden Anamnesis. Die verdrängte Weltangst des Baudelaire-
schen Spleen de Paris kehrt in Zone als ‘die Angst um Liebe’ (Comme si
tu ne devais jamais être aimé, v. 74) wieder, ‘die die Kehle zuschnürt’.
Die Erfahrung der Zerstückelung des Ichs in Raum und Zeit, der
Fluch der Selbstentzogenheit, schlagen auf die euphorische Erfahrung
des Daseins in der anonymen Menge zurück: nun läßt die ‘Angst um
7 Die folgende Strophe aus La Chanson du Mal-Aimé rühmt diese Töne im Stil des
‘vanto joglaresco’ (der letzte Vers spielt auf Orpheus an):
Moi qui sais des lais pour des reines
Les complaintes de mes années
Des hymnes d’esclave aux murènes
La romance du mal aimé
Et des chanson pour les sirènes (éd. PL, S. 50).
8 Gipfelnd in:
J’ai vécu comme un fou et j’ai perdu mon temps
Tu n’oses plus regarder tes mains et à tous moments je voudrais sangloter
Sur toi sur celle que j’aime sur tout ce qui t’a épouvanté (v. 118-120).
9 Wie P. Szondi zeigte, in: Schriften II, Frankfurt, S. 414ff.
Hans Robert Jauss
Das unbegründbare neue Vertrauen auf Schönheit und Glück einer
erst anhebenden, modernen Welt scheint im orphischen Dichter-
mythos Apollinaires zu gründen, nur daß es nicht mehr das lyrische
Subjekt ist, das jetzt noch die Erneuerung der Welt vollziehen kann,
wie es jener Orpheus tat, der im früheren Bestiaire die unvordenk-
lichen Tiergestalten zu benennen und umzudeuten wußte, oder wie
der Mal-Aimé in Alcools, der sich rühmte, über alle Töne der alles
verwandelnden, jede Gefahr bannenden Poesie zu verfügen7. Denn
das lyrische Subjekt in Zone ist selbst von der Entfremdung ge-
schlagen, die es als Brandmal der modernen Welt verleugnet.
Zwar weiß der Flaneur in Zone auf seinem Gang durch Paris die
Poesie der Technik und Schönheit der ‘industriellen Kunst’ allerorts zu
entdecken und zu rühmen. Doch in dem Maße, wie er die Faszination
der Metropole bis zur Neige - vom frühen Morgen der arbeitenden
Massen bis zum schalen nächtlichen Vergnügen der vom Elend
Geschlagenen - auskostet, muß er erfahren, wie sich ihm sein eigenes
Selbst entzieht, das er im Ich wie im Du seiner wechselnden Stimmen
vergeblich zur Rede zu stellen sucht8. Der durch die Stadt Streifende,
der im Strom der Menge jeden prägnanten Anblick des gegenwärtigen
Lebens euphorisch aufnimmt und genießt, scheint verdammt zu sein,
jedem erinnerten Moment seines vergangenen Lebens wie einem
fremden Ich zu begegnen9. Der hohe Preis für die unerahnte Grenz-
erweiterung der modernen Welterfahrung ist der Verlust der identitäts-
verbürgenden Anamnesis. Die verdrängte Weltangst des Baudelaire-
schen Spleen de Paris kehrt in Zone als ‘die Angst um Liebe’ (Comme si
tu ne devais jamais être aimé, v. 74) wieder, ‘die die Kehle zuschnürt’.
Die Erfahrung der Zerstückelung des Ichs in Raum und Zeit, der
Fluch der Selbstentzogenheit, schlagen auf die euphorische Erfahrung
des Daseins in der anonymen Menge zurück: nun läßt die ‘Angst um
7 Die folgende Strophe aus La Chanson du Mal-Aimé rühmt diese Töne im Stil des
‘vanto joglaresco’ (der letzte Vers spielt auf Orpheus an):
Moi qui sais des lais pour des reines
Les complaintes de mes années
Des hymnes d’esclave aux murènes
La romance du mal aimé
Et des chanson pour les sirènes (éd. PL, S. 50).
8 Gipfelnd in:
J’ai vécu comme un fou et j’ai perdu mon temps
Tu n’oses plus regarder tes mains et à tous moments je voudrais sangloter
Sur toi sur celle que j’aime sur tout ce qui t’a épouvanté (v. 118-120).
9 Wie P. Szondi zeigte, in: Schriften II, Frankfurt, S. 414ff.