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Hans Robert Jauss
sehen bekommen soll, die es ineins damit der spontanen Erfahrung
des Betrachters verschließt. Und als ob es dem Autor darauf ankäme,
die Realität in ihrer Unverfügbarkeit und Widerständigkeit heraus-
zufordern, will Duchamp die Absicht, ‘ein Ready-made einzuschrei-
ben’, auf einen zukünftigen, für das Projekt beliebigen und doch auf
die Minute genauen Zeitpunkt datiert wissen. Dementsprechend kann
auch der Titel Lundi Rue Christine als ein vordatiertes Ereignis, wenn
nicht gar als Verabredung eines Duells verstanden werden (dann aber
gewiß nicht aus biographischen Gründen30, sondern als ‘Duell mit der
Realität’!).
Daß Apollinaire zur selben Zeit zwei authentische Stenogramme
stattgeftmdener Konversationen ohne weiteren Kommentar, doch mit
genauer Angabe von Ort und Stunde, veröffentlicht hat31, stützt die
These, daß sein Konversationsgedicht und Duchamps Ready-made als
ein analoges Experiment der literarischen und künstlerischen Avant-
garde von 1912 betrachtet werden können. Das analoge Experiment
Apollinaires wirft indes die Frage auf, ob Lundi Rue Christine darin
aufgeht, ein Stück Alltagsrealität nurmehr ex abstracto, als „objet pur“,
zum Paradox der ästhetischen Erfahrung zu erheben. Mir scheint, daß
Apollinaire mit diesem Schritt seine orphische Grundüberzeugung
nicht preisgab, sie vielmehr unter der erschwerten Bedingung zu ver-
wirklichen suchte, nunmehr im prosaischen Jetzt und Hier eines Kon-
versationsgedichts die latente Poesie des Simultanen zu entdecken.
Gewiß kann man zunächst mit Philippe Renaud im Ready-made die
Kehrseite der „peinture pure“: das „objet pur“, sehen und die Anti-
nomie der beiden avantgardistischen Kunstgattungen als Antwort auf
die extreme Erfahrung der Entfremdung des Bewußtseins in einer ver-
dinglichten Welt verstehen32. Doch wäre es dann nicht naheliegend,
daß Apollinaire das avantgardistische Experiment seines Freundes
Duchamp noch einen Schritt weiterführen und versuchen wollte, die
aufgerissene Kluft zwischen der orphischen Malerei, die das reine
Spiel der Farben von aller Gegenständlichkeit entbindet, und dem
Ready-made, das im isolierten Gegenstand die kontingente, sinnfremd
gewordene Realität präsentiert, auf seine Weise zu überbrücken? In
der Tat präsentiert Lundi Rue Christine die sinnentzogene Realität der
zerstückelten Konversation nur prima vista als Spiel des Zufalls: in der
30 Wie Ph. Renaud (1969), S. 304, erwägt.
31 S. dazu Ph. Renaud (1969), S. 258.
32 Ph. Renaud, (1969), S. 259.
Hans Robert Jauss
sehen bekommen soll, die es ineins damit der spontanen Erfahrung
des Betrachters verschließt. Und als ob es dem Autor darauf ankäme,
die Realität in ihrer Unverfügbarkeit und Widerständigkeit heraus-
zufordern, will Duchamp die Absicht, ‘ein Ready-made einzuschrei-
ben’, auf einen zukünftigen, für das Projekt beliebigen und doch auf
die Minute genauen Zeitpunkt datiert wissen. Dementsprechend kann
auch der Titel Lundi Rue Christine als ein vordatiertes Ereignis, wenn
nicht gar als Verabredung eines Duells verstanden werden (dann aber
gewiß nicht aus biographischen Gründen30, sondern als ‘Duell mit der
Realität’!).
Daß Apollinaire zur selben Zeit zwei authentische Stenogramme
stattgeftmdener Konversationen ohne weiteren Kommentar, doch mit
genauer Angabe von Ort und Stunde, veröffentlicht hat31, stützt die
These, daß sein Konversationsgedicht und Duchamps Ready-made als
ein analoges Experiment der literarischen und künstlerischen Avant-
garde von 1912 betrachtet werden können. Das analoge Experiment
Apollinaires wirft indes die Frage auf, ob Lundi Rue Christine darin
aufgeht, ein Stück Alltagsrealität nurmehr ex abstracto, als „objet pur“,
zum Paradox der ästhetischen Erfahrung zu erheben. Mir scheint, daß
Apollinaire mit diesem Schritt seine orphische Grundüberzeugung
nicht preisgab, sie vielmehr unter der erschwerten Bedingung zu ver-
wirklichen suchte, nunmehr im prosaischen Jetzt und Hier eines Kon-
versationsgedichts die latente Poesie des Simultanen zu entdecken.
Gewiß kann man zunächst mit Philippe Renaud im Ready-made die
Kehrseite der „peinture pure“: das „objet pur“, sehen und die Anti-
nomie der beiden avantgardistischen Kunstgattungen als Antwort auf
die extreme Erfahrung der Entfremdung des Bewußtseins in einer ver-
dinglichten Welt verstehen32. Doch wäre es dann nicht naheliegend,
daß Apollinaire das avantgardistische Experiment seines Freundes
Duchamp noch einen Schritt weiterführen und versuchen wollte, die
aufgerissene Kluft zwischen der orphischen Malerei, die das reine
Spiel der Farben von aller Gegenständlichkeit entbindet, und dem
Ready-made, das im isolierten Gegenstand die kontingente, sinnfremd
gewordene Realität präsentiert, auf seine Weise zu überbrücken? In
der Tat präsentiert Lundi Rue Christine die sinnentzogene Realität der
zerstückelten Konversation nur prima vista als Spiel des Zufalls: in der
30 Wie Ph. Renaud (1969), S. 304, erwägt.
31 S. dazu Ph. Renaud (1969), S. 258.
32 Ph. Renaud, (1969), S. 259.