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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0039
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Die Epochenschwelle von 1912

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liehe Epochisierung der Kunst- und Literaturgeschichten, die in den
Zeitraum zwischen Naturalismus und Expressionismus eine diachro-
nische Abfolge zu bringen sucht, wird der modernen Erscheinung die-
ses Stilpluralismus, der das Marktgesetz des Luxushandels im ästhe-
tischen Wettbewerb gipfeln läßt, nicht mehr gerecht. Naturalismus
und Symbolismus stehen von Anbeginn im Neben- und Gegeneinan-
der (Zolas Roman Assommoir neben Mallarmés Après-midi d’un
faune, Hauptmanns Weber neben Georges Algabal}. Der dekadente
Ästhetizismus und der affirmative Vitalismus treiben sich wechselsei-
tig hervor, so daß sich die Zeitgenossen „als Anbeter der Gesundheit
und Eroberer der Zukunft (und zugleich) als morbide, hoffnungslose
Zeugen einer versinkenden Zeit“ sehen können46. Und wenn die
Avantgarden der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, mit denen erst
eigentlich die entscheidenden Formexperimente der Moderne des
XX. Jahrhunderts beginnen, allem Dekadenzgefühl wie auch der
Nostalgie des einfachen Lebens Valet sagen und sich entschieden von
den Endgestalten der Ästhetik des 19. Jahrhunderts (dem Realismus
wie dem Symbolismus, der engagierten Literatur Zolas wie der „poésie
pure“ Mallarmés oder - in der Malerei - dem Impressionismus)
abkehren, treten in der ersten Welle wiederum wenigstens drei im
Grundansatz verschiedene Bewegungen - der italienische Futurismus,
der französische Kubismus (und Orphismus) und der deutsche
Expressionismus - auf dem internationalen Schauplatz gleichzeitig in
den ästhetischen Wettbewerb47.
Besäßen wir für die Jahre 1911 und 1912 ein Kalendarium mit einer
Dokumentation der Erscheinungen europäischer Kunst und Literatur
wie das von L. Brion-Guerry für das Jahr 1913 erstellte48, so würde das
Ausmaß der Epochenwende erst in seiner Fülle und Ubiquität voll
ansichtig machen, was am Vorabend des Ersten Weltkriegs den uner-
hörten Aufschwung der jüngst vergangenen ästhetischen Moderne
gezeitigt hat. Den Anfang dieser Epoche heute, von seinem präsump-
tiven Ende aus, in der Rückschau als Ereignis aus seinen Folgen zu
würdigen, übersteigt gewiß die Kompetenz des Einzelnen wie die des
Literarhistorikers. Hier zeichnet sich eine der schönsten Aufgaben
interdisziplinärer Forschung ab, die ich erst noch mit wenigen Hinwei-
sen erläutern möchte, um sodann die Frage aufzunehmen, welches

46 Zmegac, wie Anm. 41, S. xxiv (zu einem Zeugnis von Musil).
47 Vgl. dazu Szabolcsi, wie Anm. 1, S. 53.
48 L’année 1913, Bd. 1, Paris 1971.
 
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