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Borst, Arno; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1989, 1. Abhandlung): Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende: vorgetragen am 11. Februar 1989 — Heidelberg: Winter, 1989

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https://doi.org/10.11588/diglit.48156#0102
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Arno Borst

Schöpfte indes der liturgische Aspekt die wissenschaftlichen Mög-
lichkeiten des Instruments aus? Um 1183 bestand der Pariser Univer-
sitätslehrer Alanus von Lille darauf, daß das Astrolab Hauptattribut
der Astronomia sei. Das hieß aber nun, anders als bei Raimund von
Marseille: Es trug zur spekulativen Theorie der himmlischen Örter und
Zeiten bei, zur gelehrten Astrologie vielleicht auch, nicht aber zur
praktischen Vermessung und Berechnung irdischer Tage und Körper,
ebensowenig zur Ordnung des Kirchenkalenders. Alanus nannte das
Astrolab spera plana, denn mittlerweile lag das ptolemäische Werk
‘Planisphaerium’ lateinisch vor.168 Je theoretischer, desto antikischer.
Deswegen zeigte um 1215 der auf Alanus fußende italienische Domherr
Thomasin von Zerclaere die Königin Astronomia mit Ptolomeus im
Gespräch über die Vorderseite eines Astrolabs, das zwischen ihnen
hing. Die technischen Details der Darstellung stammten aus den
Schriften Hermanns des Lahmen, doch sein Beitrag war der Rede nicht
wert.169
Dennoch wirkte seine Verschmelzung von Theorie und Praxis zu
einer christlichen Lebensform immer noch nach. Ihren letzten Aus-
druck fand sie um 1220 in einer Pariser Miniatur, im Psalterium für eine
vornehme Dame, die später mit der französischen Königin Bianca von
Kastilien gleichgesetzt wurde. Die kunsthistorische Forschung wundert
sich, warum in diesem Gebetbuch drei Gelehrte abgebildet sind, die
nachts mit dem Astrolab die Sterne vermessen. Der Vornehmste hält in
der Rechten ein Sehrohr, mit der Linken erhebt er die Rückseite des
Astrolabs und blickt durch die Alhidade. Der eine Gehilfe offeriert ihm
einen Codex mit arabischen Zeichen; dem anderen diktiert er sein
Ergebnis in ein lateinisches Buch. Offenbar peilt er mit dem Astrolab

168 Alanus von Lille, Anticlaudianus IV, 11-20, hg. von Robert Bossuat (1955) S.
107. Bestätigend spätestens 1213 Radulf von Longchamp, In Anticlaudianum
Alani commentum, hg. von Jan Sulowski (1972) S. 212: planisphaerium, id est
astrolabium, quod invenit Ptolemaeus. Zu beider Mathematikverständnis Borst,
Zahlenkampfspiel S. 221-223. Zum ‘Planisphaerium’ und seiner Übersetzung
oben Anm. 16.
169 Zu Thomasin Verf., Die Naturwissenschaften in einer Bilderhandschrift des 13.
Jahrhunderts, Jahrbuch 1986 der Braunschweigischen Wissenschaftlichen
Gesellschaft (1986) S. 205-223, hier S. 214 mit Anm. 29; Borst, Zahlenkampf-
spiel S. 274 f., 488—194. In Kirchen wurde die meditierende Astronomie um 1200
bisweilen mit der Rückseite eines Astrolabs (ohne Ptolemaios als Partner)
abgebildet; dazu Christoph J. Scriba, Die mathematischen Wissenschaften im
mittelalterlichen Bildungskanon der Sieben Freien Künste, Acta historica
Leopoldina 16 (1985) S. 25-54, hier S. 32 f. mit Abb. 5.
 
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