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Eugen Biser
Wort und Schrift
Um dem Schreibakt - und diesem als Schlüssel für die Verschriftung
der biblischen Botschaft - auf die Spur zu kommen, tut man gut daran,
beim Verstehen, genauer noch beim hermeneutischen Rückmeldeeffekt
des Verstehensaktes, einzusetzen. Der aber betrifft den Sprecher und
den Rezipienten gleicherweise. Denn „verstehbar“ ist nur das, was sich
der Sprecher nach Art einer antizipatorischen Vorgabe zunächst einmal
selbst „gesagt sein läßt“. Und ebenso wird nur das wirklich „verstan-
den“, was sich der Hörer im Sinn eines „rezeptiven Sprechakts“, also
eines Redens mit und zu sich selbst, zusammen mit dem Vernommenen,
„selber sagt“. Nur so entspricht es der Feststellung Hans-Georg Gada-
mers von der in jedem echten Verstehen erfolgten Entdeckung des An-
deren als eines Non-aliud:
In der vermeintlichen Naivität unseres Verstehens, in dem wir dem Maßstab der Ver-
ständlichkeit folgen, zeigt sich das Andere so sehr vom Eigenen her, daß es gar nicht
mehr als Eigen und Anderes zur Aussage kommt.24
Zeigt sich das „Andere“ aber auch dann noch diesseits von „Eigen und
Anderes“, wenn es nicht dem dialogischen Wort, sondern dessen „Ent-
fremdung“ zu einem Text entnommen wird? Im Zug dieser Frage sieht
sich die Literaturwissenschaft immer schon mit dem von Mephisto ange-
rissenen Problem der medialen Umsetzung, anders ausgedrückt, mit der
Schrift als einem Fall von „Selbstentfremdung“ (Gadamer) konfron-
tiert, auch wenn sich für diese „Not“ (Luther) kein Zeugnis vom Rang
des Chandos-Briefs anführen läßt, mit dem Hugo von Hofmannsthal
die Not des Sprachverfalls beschwor.25 Dabei lag der dem Mythos zuge-
wandten Phantasie der Gegenwart die Erinnerung an das gleicherweise
verkürzende wie zerdehnende Bett des von Theseus bezwungenen Pro-
krustes doch geradezu zum Greifen nah.26
Mann: Dekadenz und Genie, in: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deut-
schen Literatur, Philosophie und Politik II, Darmstadt 1988, 264-277.
24 H.-G. Gadamer, Wirkungsgeschichte und Applikation, in: Rezeptionsästhetik, 113.
So entspricht es auch dem Sprach- und Schriftverständnis Ernst Cassirers, für den
„das Zeichen, das dem Gegenstand aufgedrückt wird", diesen in den Wirkbereich des
Bezeichnenden hineinzieht und gleichzeitig gegen fremde Einwirkung abschirmt:
M. F. Ashley Montague, Das mythische Denken in der Philosophie der symbolischen
Formen, in: P. A. Schilpp (Hrsg.), Ernst Cassirer, Stuttgart 1949, 261.
25 Näheres dazu in meiner Untersuchung ,Religiöse Sprachbarrieren. Aufbau einer Lo-
gaporetik1, München 1980, 43-46.
26 Näheres bei R. von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutun-
gen, Reinbek bei Hamburg 1955, 299; 301.
Eugen Biser
Wort und Schrift
Um dem Schreibakt - und diesem als Schlüssel für die Verschriftung
der biblischen Botschaft - auf die Spur zu kommen, tut man gut daran,
beim Verstehen, genauer noch beim hermeneutischen Rückmeldeeffekt
des Verstehensaktes, einzusetzen. Der aber betrifft den Sprecher und
den Rezipienten gleicherweise. Denn „verstehbar“ ist nur das, was sich
der Sprecher nach Art einer antizipatorischen Vorgabe zunächst einmal
selbst „gesagt sein läßt“. Und ebenso wird nur das wirklich „verstan-
den“, was sich der Hörer im Sinn eines „rezeptiven Sprechakts“, also
eines Redens mit und zu sich selbst, zusammen mit dem Vernommenen,
„selber sagt“. Nur so entspricht es der Feststellung Hans-Georg Gada-
mers von der in jedem echten Verstehen erfolgten Entdeckung des An-
deren als eines Non-aliud:
In der vermeintlichen Naivität unseres Verstehens, in dem wir dem Maßstab der Ver-
ständlichkeit folgen, zeigt sich das Andere so sehr vom Eigenen her, daß es gar nicht
mehr als Eigen und Anderes zur Aussage kommt.24
Zeigt sich das „Andere“ aber auch dann noch diesseits von „Eigen und
Anderes“, wenn es nicht dem dialogischen Wort, sondern dessen „Ent-
fremdung“ zu einem Text entnommen wird? Im Zug dieser Frage sieht
sich die Literaturwissenschaft immer schon mit dem von Mephisto ange-
rissenen Problem der medialen Umsetzung, anders ausgedrückt, mit der
Schrift als einem Fall von „Selbstentfremdung“ (Gadamer) konfron-
tiert, auch wenn sich für diese „Not“ (Luther) kein Zeugnis vom Rang
des Chandos-Briefs anführen läßt, mit dem Hugo von Hofmannsthal
die Not des Sprachverfalls beschwor.25 Dabei lag der dem Mythos zuge-
wandten Phantasie der Gegenwart die Erinnerung an das gleicherweise
verkürzende wie zerdehnende Bett des von Theseus bezwungenen Pro-
krustes doch geradezu zum Greifen nah.26
Mann: Dekadenz und Genie, in: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deut-
schen Literatur, Philosophie und Politik II, Darmstadt 1988, 264-277.
24 H.-G. Gadamer, Wirkungsgeschichte und Applikation, in: Rezeptionsästhetik, 113.
So entspricht es auch dem Sprach- und Schriftverständnis Ernst Cassirers, für den
„das Zeichen, das dem Gegenstand aufgedrückt wird", diesen in den Wirkbereich des
Bezeichnenden hineinzieht und gleichzeitig gegen fremde Einwirkung abschirmt:
M. F. Ashley Montague, Das mythische Denken in der Philosophie der symbolischen
Formen, in: P. A. Schilpp (Hrsg.), Ernst Cassirer, Stuttgart 1949, 261.
25 Näheres dazu in meiner Untersuchung ,Religiöse Sprachbarrieren. Aufbau einer Lo-
gaporetik1, München 1980, 43-46.
26 Näheres bei R. von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutun-
gen, Reinbek bei Hamburg 1955, 299; 301.