Tauberbischofsheim
(1474)
Kragstein am nordwestlichen Eckpfeiler der
, etwa 3 Meter über dem Bo-
den; r. S., die erhabene Schrift (5—7,5 cm) war
mehrfach übermalt. Zur Datierung vergleiche
Nr. 16.
gnotofoliboö
Die bisher rätselhafte Inschrift hat seit über
hundert Jahren eine Reihe von Deutungsver-
suchen veranlaßt. Das Rätsel ist jetzt gelöst.
Doch mag eine kurze zusammenfassende Über-
sicht über den Ablauf dieser Bemühungen
nützlich sein:
Mone erkennt die Entstellung aus gnoti seau-
ton (= erkenne dich selbst), läßt aber die Fragen
offen, ob dieVerdrehung „Mißverstand und Un-
geschicklichkeit oder Absicht ist, ob die gewiß
auffallende Erwähnung des Spruches auf einen
Gnostizismus der alten Baugilden hinweist“. In
einer späteren Veröffentlichung trägt er als Be-
leg aus nicht näher bezeichneten alten Hand-
schriften die Gleichsetzung mit nosce te ip-
sum bei. Niedermayer möchte in dem Darge-
stellten den Meister sehen und teilt lediglich
seine Lesung gvoto solidos mit. Berberich ver-
zeichnet ohne eigene Stellungnahme zwei fremde Erklärungen: gnotos ( = cognitos) solidos = ent-
richtet die euch bekannten Scherflein zum Besten der Notleidenden, und ferner gnoto ( = cognito)
soli deo = dem erkannten, allein wahren Gott. v. Oechelhaeuser (Kdm.) findet den Zusammenhang
mit dem alten griechischen Mahnspruch zur Selbsterkenntnis „etwas weit hergeholt, obgleich der-
artige unverstandene Spielereien im beginnenden Zeitalter des Humanismus durchaus nichts Sel-
tenes sind“. Auch Ehrensberger lehnt den Zusammenhang mit dem Griechischen wegen des hohen
Grades der Verstümmelung nachdrücklich ab und möchte die Worte mit der Gebärde des Dar-
gestellten in Verbindung bringen, indem er übersetzt: bringt mir, dem euch Wohlbekannten
(gnoto = noto) eure Schillinge (solidos), d. h. Beiträge, zum Bau. Unentschieden läßt er den Lö-
sungsversuch connoto solidos, ich notiere das Geld zusammen, verzeichne oder verrechne es; hier-
bei müßte man das g als Kürzungszeichen für con auffassen, und der Abgebildete wäre nicht der
Baumeister, sondern der Gotteshausmeister. Das inzwischen von Albert vorgeschlagene egroto
solidos lehnt er ab, da dies voraussetze, die Kapelle habe zu einem Spital gehört. Steinhart denkt
an den Zweck des Baues als Beinhaus und möchte ohne weitere Erklärung deuten: man solle sich
merken, was von einem dereinst übrigbleibe, nämlich die Gebeine. Preisendanz dachte zunächst
an spätlateinisch quotare und las quoto solidos = ich zähle oder ich ordne die Schillinge. Der
Jüngling deute unter sich auf einen Geldteller, der auf einem Opferstock am Pfeiler stand. Ein
Opferstock im Freien ist indessen für diese Zeit in Deutschland nicht nachweisbar1.
Neuere Bemühungen um die Inschrift im Anschluß an unsere Aufnahme haben sie eindeutig
geklärt. Preisendanz2 wies nach dem Versuch, die Inschrift in gnoto soli d(eo) o(ptimo) s(ummo)
aufzulösen in Anlehnung an die bekannte Altarinschrift: Ignoto Deo = dem unbekannten Gott3,
eine Inkunabel nach, die den Titel trägt: Arnoldus de Geilhoven, gnotosolitos sive speculum con-
scientiae. Brux. Fratres vitae communis (25. Mai 1476). Zu Arnoldus de Roterodamo, cognomine
Geilhoven, natione Batavus, fand er in einem Kommentar des 18. Jahrhunderts über Kirchen-
schriftsteller4 u. a. den Satz: „Edidit grande volumen, quod graece inscripsit yvcoö-i, aeauTov, latine
nosce te ipsum, sive speculum conscientiae; quod Scribae vel Typographi Graecae nescientes
inscripserunt „gnotosolitos“ — d. h.: er gab einen großen Band heraus, den er griechisch über-
schrieb: gnoti seauton, lateinisch nosce te ipsum, oder Spiegel des Gewissens, was die Schreiber
oder Drucker, die kein Griechisch konnten, gnotosolitos schrieben.
Gleichzeitig wurde von Fr. G. Jung5 der Nachweis erbracht, daß der Spruch in dieser Form in den
Jahrzehnten vor der Reformation weit verbreitet war. Es fanden sich sechs Glossare6 aus den Jahren
(1474)
Kragstein am nordwestlichen Eckpfeiler der
, etwa 3 Meter über dem Bo-
den; r. S., die erhabene Schrift (5—7,5 cm) war
mehrfach übermalt. Zur Datierung vergleiche
Nr. 16.
gnotofoliboö
Die bisher rätselhafte Inschrift hat seit über
hundert Jahren eine Reihe von Deutungsver-
suchen veranlaßt. Das Rätsel ist jetzt gelöst.
Doch mag eine kurze zusammenfassende Über-
sicht über den Ablauf dieser Bemühungen
nützlich sein:
Mone erkennt die Entstellung aus gnoti seau-
ton (= erkenne dich selbst), läßt aber die Fragen
offen, ob dieVerdrehung „Mißverstand und Un-
geschicklichkeit oder Absicht ist, ob die gewiß
auffallende Erwähnung des Spruches auf einen
Gnostizismus der alten Baugilden hinweist“. In
einer späteren Veröffentlichung trägt er als Be-
leg aus nicht näher bezeichneten alten Hand-
schriften die Gleichsetzung mit nosce te ip-
sum bei. Niedermayer möchte in dem Darge-
stellten den Meister sehen und teilt lediglich
seine Lesung gvoto solidos mit. Berberich ver-
zeichnet ohne eigene Stellungnahme zwei fremde Erklärungen: gnotos ( = cognitos) solidos = ent-
richtet die euch bekannten Scherflein zum Besten der Notleidenden, und ferner gnoto ( = cognito)
soli deo = dem erkannten, allein wahren Gott. v. Oechelhaeuser (Kdm.) findet den Zusammenhang
mit dem alten griechischen Mahnspruch zur Selbsterkenntnis „etwas weit hergeholt, obgleich der-
artige unverstandene Spielereien im beginnenden Zeitalter des Humanismus durchaus nichts Sel-
tenes sind“. Auch Ehrensberger lehnt den Zusammenhang mit dem Griechischen wegen des hohen
Grades der Verstümmelung nachdrücklich ab und möchte die Worte mit der Gebärde des Dar-
gestellten in Verbindung bringen, indem er übersetzt: bringt mir, dem euch Wohlbekannten
(gnoto = noto) eure Schillinge (solidos), d. h. Beiträge, zum Bau. Unentschieden läßt er den Lö-
sungsversuch connoto solidos, ich notiere das Geld zusammen, verzeichne oder verrechne es; hier-
bei müßte man das g als Kürzungszeichen für con auffassen, und der Abgebildete wäre nicht der
Baumeister, sondern der Gotteshausmeister. Das inzwischen von Albert vorgeschlagene egroto
solidos lehnt er ab, da dies voraussetze, die Kapelle habe zu einem Spital gehört. Steinhart denkt
an den Zweck des Baues als Beinhaus und möchte ohne weitere Erklärung deuten: man solle sich
merken, was von einem dereinst übrigbleibe, nämlich die Gebeine. Preisendanz dachte zunächst
an spätlateinisch quotare und las quoto solidos = ich zähle oder ich ordne die Schillinge. Der
Jüngling deute unter sich auf einen Geldteller, der auf einem Opferstock am Pfeiler stand. Ein
Opferstock im Freien ist indessen für diese Zeit in Deutschland nicht nachweisbar1.
Neuere Bemühungen um die Inschrift im Anschluß an unsere Aufnahme haben sie eindeutig
geklärt. Preisendanz2 wies nach dem Versuch, die Inschrift in gnoto soli d(eo) o(ptimo) s(ummo)
aufzulösen in Anlehnung an die bekannte Altarinschrift: Ignoto Deo = dem unbekannten Gott3,
eine Inkunabel nach, die den Titel trägt: Arnoldus de Geilhoven, gnotosolitos sive speculum con-
scientiae. Brux. Fratres vitae communis (25. Mai 1476). Zu Arnoldus de Roterodamo, cognomine
Geilhoven, natione Batavus, fand er in einem Kommentar des 18. Jahrhunderts über Kirchen-
schriftsteller4 u. a. den Satz: „Edidit grande volumen, quod graece inscripsit yvcoö-i, aeauTov, latine
nosce te ipsum, sive speculum conscientiae; quod Scribae vel Typographi Graecae nescientes
inscripserunt „gnotosolitos“ — d. h.: er gab einen großen Band heraus, den er griechisch über-
schrieb: gnoti seauton, lateinisch nosce te ipsum, oder Spiegel des Gewissens, was die Schreiber
oder Drucker, die kein Griechisch konnten, gnotosolitos schrieben.
Gleichzeitig wurde von Fr. G. Jung5 der Nachweis erbracht, daß der Spruch in dieser Form in den
Jahrzehnten vor der Reformation weit verbreitet war. Es fanden sich sechs Glossare6 aus den Jahren