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Seeliger-Zeiss, Anneliese; Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste [Mitarb.]; Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]; Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]; Bayerische Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]; Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig [Mitarb.]; Österreichische Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]; Akademie der Wissenschaften in Göttingen [Mitarb.]; Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz [Mitarb.]
Die deutschen Inschriften: DI (Band 47 = Heidelberger Reihe, 13. Band): Die Inschriften des Landkreises Böblingen — Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.57659#0049
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Die Frühhumanistische Kapitalis wurde — ihrem Ursprung als einer dekorativen Auszeichnungsschrift
gemäß - besonders häufig für gemalte Schriften verwendet. Besonders beliebt wurde diese Schrift in
Württemberg für gemalte Retabel165. Auch das wichtigste Altarwerk des Bearbeitungsgebietes, der
Herrenberger Altar von Jörg Ratgeb von 1519 (nr. 160), trägt gemalte Rahmen-Inschriften in einer
Schrift, die auf den ersten Blick schon die Wirkung einer klassischen Kapitalis erreicht durch ihre
ausgewogenen, eher breiten Proportionen und die Wahl von überwiegend klassischen Formen des
Alphabets. Auch hier fällt der Verzicht auf die Ausbuchtungen in H oder N auf. Trotzdem muß diese
Schrift als Frühhumanistische Kapitalis angesprochen werden wegen der häufigen Verwendung des
zweibogigen E und des trapezförmigen M als „Leitbuchstaben“ und wegen der Vorliebe für gewisse
Kürzungen und Ligaturen, die vielleicht Züge der Gotischen Majuskel spiegeln.
Als einziges Beispiel aus der Glasmalerei ist eine Scheibe mit einer Nimbemnschrift des Hl. Bene-
dikt in Dagersheim erhalten (nr. 103). Ihre Ansetzung nach 1491 ist jedoch ebenso unsicher wie die
Entstehung nach 1523 für die Wandmalerei in der Ehninger Kirche (nr. 166), wo Spruchbänder und
Nimben mit Gotischer Minuskel neben Nimben mit Frühhumanistischer Kapitalis stehen.
Sicher 1485 datiert, aber völlig verstümmelt ist das früheste Vorkommen auf Stein, ein Grabplatten-
fragment in Weil im Schönbuch. Die nächsten, jedenfalls später anzusetzenden Beispiele sind frag-
mentarisch erhaltene Grabplatten ohne Datumszeile gleichfalls in Weil im Schönbuch und in Mag-
stadt (nrr. 167, 189) mit den typischen Spätformen des 16. Jahrhunderts wie dem eingerollten G, dem
mandelförmigen spitzigen O, dem Z-förmigen R. Nachzügler sind Inschriften von 1563 und 1585
(nrr. 207, 243) in Weil der Stadt.
Die Frühhumanistische Kapitalis wurde zuweilen im retrospektiven Sinne verwendet, gewisser-
maßen als Imitation oder Wiederaufnahme einer Gotischen Majuskel, wenn es galt, das hohe Alter
eines Gegenstandes anschaulich zu machen. Dieser Beweggrund lag vor etwa bei der Erneuerung von
Stifter-Grabmälern oder von Heiligen-Grabmälern, wie bei dem Grabmal für den Hl. Aurelius, ge-
schaffen um 1500 für Hirsau166. Vergleichbar ist der Fall der Grabplatte für Anshelm Reinhart, den
Anführer der Weiler wehrhaften Bürger, mit ihnen getötet in der Schlacht bei Döffingen 1388
(nr. 125). Diese Grabplatte wurde um 1500 für den Neubau der Stadtkirche in Weil der Stadt viel-
leicht nach dem Vorbild einer älteren Grabplatte von 1388 neu geschaffen, vermutlich zur Lokalisie-
rung der liturgischen Memoria für ihn und für die im Kampf gefallenen 60 Mitbürger. Für die In-
schrift wählte man die Frühhumanistische Kapitalis, um den Eindruck einer Gotischen Majuskel des
späten 14.Jahrhunderts zu erwecken. Damit machte man glaubhaft, daß es sich um einen Denkstein
für einen vor langer Zeit Verstorbenen handelte.
6.5 Kapitalis
Das frühe Aufkommen der Kapitalis wird mit Recht als Symptom für den Einfluß humanistisch ge-
bildeter Kreise und für das Vorhandensein künstlerisch hochentwickelter Werkstätten angesehen.
Wie die Beispiele für die Frühhumanistische Kapitalis zeigten, sind die Grenzen zwischen beiden
Schriftarten fließend. Jedenfalls war die Renaissance-Kapitalis in Stein im Bereich des nahegelegenen
Stuttgarter Hofes längst in Gebrauch, bevor sie sich auch im Bearbeitungsgebiet spätestens bis 1525
durchsetzte, wie die Gedenkinschrift in Herrenberg (nr. 169) belegt. In Stuttgart sind sehr bezeich-
nende Beispiele von 1501 und 1502 erhalten, an denen man das Ringen um eine Annäherung an die
Schrift der Antike ablesen kann: das dreisprachig beschriftete Epitaph des Johannes Reuchlin167, der
ebenfalls dreisprachig beschriftete Titulus des Steinkreuzes von Hans Syfer168, die Bauinschrift des
Bebenhausener Abtes Johannes von Fridmgen169 und das Grabdenkmal des Kanonikers Heinrich
Heller170. Zusammen mit Hirsau mit Belegen von 1493 und 1498 für die Frühhumanistische Kapi-
talis171 und von 1516 für die Renaissance-Kapitalis172 ist damit das epigraphische Umfeld für den

165 So 1488 auf dem Stettener Altar sowie dem Schnaiter Altar von 1497; DI 37 (Rems-Murr-Kreis) nrr. 54, 68; im Lkr.
Göppingen auf dem Drackensteiner Altar von etwa 1490 sowie auf den Zeitblom-Altären aus Donzdorf, Hundsholz
und Adelberg; DI 41 (Göppingen) nrr. 119, 120, 175, 193.
166 Vgl. DI 30 (Calw) nr. 160 u. Eml.XXIXf.
167 In der ev. Leonhardskirche; vgl. Wais (wie Anm. 116) 31 f. mit Abb.
168 Ursprünglich auf dem St. Leonhardsfriedhof, jetzt in der Hospitalkirche; ebd. 54.
169 Jetzt im Lapidarium Mörikestraße; Photo im Heidelberger Epigraphik-Archiv.
170 In der Stiftskirche; vgl. Wais, G., Die Stuttgarter Stiftskirche. Stuttgart 1952, 87.
171 Gewölbeschlußstein des Kreuzgangs und Grabplatte des Hl. Aurelius; DI 30 (Calw) nrr. 146, 160.
172 Manenkapelle, Bauinschrift; ebd. nr. 184.

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