DE MIGRATIONE EX PATRIA / DIE IACOBI ■ 1 . 6 . 2 . 2 .
SOCRATICAM PATRIA HaeC PROPINANS C[OECA CICVTAM]
ALTERIVS SEDIS CAVSATDOLORq(ve) FVIT,
INGRATVM PATRIAE PRAECONEM DIXIT IESVS
E NAZARETH PATRIA MIGRAT ET [IPSE SVA]
DISCIPVLVS CHRISTI VT NON DISPARE [SORTE, LOCOQVE]
PROMPTVS, VBI DIVIS COMPLACET[, ESSE VELIT]
INCERTIS PATRIAE DVM SEDIBVS VSq[ve V]A[GAMVR]
CAELESTIS PATRIAE TENDIMVS I[RE DOMVM]
GRATIA SERA VENIT MERITIS: POS[T] F[ATA SVPERSTES]2
INq(ue) DIES MELIOR, FAMA SEPVLTA [REDIT]
CICERO:3 / PATRIA EST, VBICVNq(ve) BENE EST / M(AGISTER)
BARTHOLOMAEVS EYSELIN / C(OGNOMINATVS) •
L(EDERSCHNEIDER) • MINISTER PATRIAE / PER • IX • ANNOS
ABITVRI=/=ENS M(ONVMENTVM) • F(IERI) • F(ECIT) •
Uber den Auszug aus der Heimat am Jakobstag 1622. Daß die Heimat hier in ihrer Blindheit mir den Sokratischen Schier-
lingsbecher zu trinken gab und der Schmerz darüber waren der Grund für den Ortswechsel. Undankbar nannte Jesus das
Predigeramt in der Heimat und verließ selbst seine Heimatstadt Nazareth. Damit der Jünger Christi kein ungleiches
Schicksal erleide und bereitwillig an dem Ort, wo es den Göttern gefällt, sein wolle, trachten wir, wenn wir an wechselnde
Stätten der Heimat weiterziehen, nach dem Haus der himmlischen Heimat. Später Dank kommt für die Verdienste: Nach
dem Schicksalsschlag kommt die Anerkennung dauerhaft und von Tag zu Tag zunehmend zurück, nachdem sie verdun-
kelt war. Cicero: Heimat ist überall da, wo es gut ist. Magister Bartholomäus Eyselin, genannt Lederschneider, neun Jahre
lang Diener der Heimat, geht fort und läßt beim Weggang dies zur Erinnerung anfertigen.4
Datum: 25.Juli
Distichen
Der Urheber der Inschrift, Bartholomäus Eiselin, wurde 1576 in Hildrizhausen geboren als Sohn des
Lehrers Barthlin (Bartholomäus) Eiselin gen. Lederschneider. Er schloß die übliche theologische
Ausbildung nach dem Studium nut der Magisterwürde in Tübingen 1598 ab5. 1602 wurde er Pfarrer
in Erligheim (Lkr. Ludwigsburg), dann ab 1613 in seiner Heimat Hildrizhausen. Nach seinem (unfrei-
willigen?) Abschied von Hildrizhausen war er bis zu seinem Tod am 15. Febr. 1633 Pfarrer in Stuttgart-
Zuffenhausen. Über seine Frau Katharina Pregizer (1566 — 1655) war er mit dem Tübinger Theologen
Johann Ulrich Pregizer (1577—1656) und dem Prälaten Lukas Osiander d.Ä. (1534 — 1604) verwandt.
Wie in diesem Gelehrten-Milieu üblich, ist er mit schriftstellerischen Arbeiten hervorgetreten, dar-
unter mit einer Chronik von Hildrizhausen6. Dazu paßt, daß die vorliegende Inschrift Zitate antiker
Autoren heranzieht und in Versmaß und Sprache der antiken Form nacheifert. Die Berufung auf das
Jesuswort bezieht sich auf Mt 13,57.
Die Inschrift ist eine Anklage gegen Eiselins Mitbürger, die offenbar durch falsche Anschuldigungen
seinen Ortswechsel erzwungen hatten7. Eine derartige, vor aller Augen öffentlich an der Kirchenwand
dargestellte Anklage ist em einzigartiges Dokument der Epigraphik. Die Ausführung erfolgte nach
Aussage der Inschrift nicht eigenhändig, sondern im Auftrag Eiselins. Die überlegte Gestaltung des
Schriftfeldes und die Ausführung im einzelnen verraten eine geübte Hand.
1 Überschrift, Datierung und Schlußzitat nach Cicero fehlen dort.
2 Variante zu Horaz, Carm. II 2,8: fama superstes.
3 Cicero, Tusc. 5, 37.
4 Übersetzung nach Dirk Kottke, Tübingen, abgedruckt bei Klein 1996, 187-188. Herrn Dr. Michael Klein, Stuttgart,
und Herrn Dr. Dirk Kottke, Tübingen, sei herzlich gedankt für zahlreiche wertvolle Hinweise und für Überlassung
der Übersetzung und des damals noch nicht veröffentlichten Manuskripts von Klein zu dem alle Aspekte ausschöp-
fenden Aufsatz. — Eine freie Übersetzung der Wandinschrift befindet sich auf einer Tafel im Chor, angebracht offenbar
auf Initiative des Landesdenkmalamtes hin; diese Version befindet sich auch in den Ortsakten des Landesdenkmal-
amtes.
5 Biographische Daten bei Klein 1996, 162 — 166; vgl. auch Baden-Württembergisches Pfarrerbuch I: Kraichgau-
Odenwald, Teil 2. Karlsruhe 1988, nr. 621. — Nach Eiselins Eintrag im Taufbuch waren seine Eltern in Hildrizhausen
„in coemiterio extra chorum templi ad angulum turris“ bestattet; im Chor befand sich ein „epitaphium“; Klein 209
Anm. 260.
6 Titel: Chronicon patriae Hilrizhusanae et Herrenbergicae, Stuttgart, HStA J1 Nr. 34, um 1620; nur in Abschrift
erhalten; ausführlich dazu Klein 1996, 166 Anm. 28.
7 Michael Klein hat den politischen und persönlichen Hintergrund ausführlich dargestellt; Klein 1996, passim. Hess
überliefert die Erklärung Eiselins als Vorspann zu seinem Zitat der Kircheninschrift; Hess, Chronik Herrenberg,
Exemplar HStA, p. 1607 f.
251
SOCRATICAM PATRIA HaeC PROPINANS C[OECA CICVTAM]
ALTERIVS SEDIS CAVSATDOLORq(ve) FVIT,
INGRATVM PATRIAE PRAECONEM DIXIT IESVS
E NAZARETH PATRIA MIGRAT ET [IPSE SVA]
DISCIPVLVS CHRISTI VT NON DISPARE [SORTE, LOCOQVE]
PROMPTVS, VBI DIVIS COMPLACET[, ESSE VELIT]
INCERTIS PATRIAE DVM SEDIBVS VSq[ve V]A[GAMVR]
CAELESTIS PATRIAE TENDIMVS I[RE DOMVM]
GRATIA SERA VENIT MERITIS: POS[T] F[ATA SVPERSTES]2
INq(ue) DIES MELIOR, FAMA SEPVLTA [REDIT]
CICERO:3 / PATRIA EST, VBICVNq(ve) BENE EST / M(AGISTER)
BARTHOLOMAEVS EYSELIN / C(OGNOMINATVS) •
L(EDERSCHNEIDER) • MINISTER PATRIAE / PER • IX • ANNOS
ABITVRI=/=ENS M(ONVMENTVM) • F(IERI) • F(ECIT) •
Uber den Auszug aus der Heimat am Jakobstag 1622. Daß die Heimat hier in ihrer Blindheit mir den Sokratischen Schier-
lingsbecher zu trinken gab und der Schmerz darüber waren der Grund für den Ortswechsel. Undankbar nannte Jesus das
Predigeramt in der Heimat und verließ selbst seine Heimatstadt Nazareth. Damit der Jünger Christi kein ungleiches
Schicksal erleide und bereitwillig an dem Ort, wo es den Göttern gefällt, sein wolle, trachten wir, wenn wir an wechselnde
Stätten der Heimat weiterziehen, nach dem Haus der himmlischen Heimat. Später Dank kommt für die Verdienste: Nach
dem Schicksalsschlag kommt die Anerkennung dauerhaft und von Tag zu Tag zunehmend zurück, nachdem sie verdun-
kelt war. Cicero: Heimat ist überall da, wo es gut ist. Magister Bartholomäus Eyselin, genannt Lederschneider, neun Jahre
lang Diener der Heimat, geht fort und läßt beim Weggang dies zur Erinnerung anfertigen.4
Datum: 25.Juli
Distichen
Der Urheber der Inschrift, Bartholomäus Eiselin, wurde 1576 in Hildrizhausen geboren als Sohn des
Lehrers Barthlin (Bartholomäus) Eiselin gen. Lederschneider. Er schloß die übliche theologische
Ausbildung nach dem Studium nut der Magisterwürde in Tübingen 1598 ab5. 1602 wurde er Pfarrer
in Erligheim (Lkr. Ludwigsburg), dann ab 1613 in seiner Heimat Hildrizhausen. Nach seinem (unfrei-
willigen?) Abschied von Hildrizhausen war er bis zu seinem Tod am 15. Febr. 1633 Pfarrer in Stuttgart-
Zuffenhausen. Über seine Frau Katharina Pregizer (1566 — 1655) war er mit dem Tübinger Theologen
Johann Ulrich Pregizer (1577—1656) und dem Prälaten Lukas Osiander d.Ä. (1534 — 1604) verwandt.
Wie in diesem Gelehrten-Milieu üblich, ist er mit schriftstellerischen Arbeiten hervorgetreten, dar-
unter mit einer Chronik von Hildrizhausen6. Dazu paßt, daß die vorliegende Inschrift Zitate antiker
Autoren heranzieht und in Versmaß und Sprache der antiken Form nacheifert. Die Berufung auf das
Jesuswort bezieht sich auf Mt 13,57.
Die Inschrift ist eine Anklage gegen Eiselins Mitbürger, die offenbar durch falsche Anschuldigungen
seinen Ortswechsel erzwungen hatten7. Eine derartige, vor aller Augen öffentlich an der Kirchenwand
dargestellte Anklage ist em einzigartiges Dokument der Epigraphik. Die Ausführung erfolgte nach
Aussage der Inschrift nicht eigenhändig, sondern im Auftrag Eiselins. Die überlegte Gestaltung des
Schriftfeldes und die Ausführung im einzelnen verraten eine geübte Hand.
1 Überschrift, Datierung und Schlußzitat nach Cicero fehlen dort.
2 Variante zu Horaz, Carm. II 2,8: fama superstes.
3 Cicero, Tusc. 5, 37.
4 Übersetzung nach Dirk Kottke, Tübingen, abgedruckt bei Klein 1996, 187-188. Herrn Dr. Michael Klein, Stuttgart,
und Herrn Dr. Dirk Kottke, Tübingen, sei herzlich gedankt für zahlreiche wertvolle Hinweise und für Überlassung
der Übersetzung und des damals noch nicht veröffentlichten Manuskripts von Klein zu dem alle Aspekte ausschöp-
fenden Aufsatz. — Eine freie Übersetzung der Wandinschrift befindet sich auf einer Tafel im Chor, angebracht offenbar
auf Initiative des Landesdenkmalamtes hin; diese Version befindet sich auch in den Ortsakten des Landesdenkmal-
amtes.
5 Biographische Daten bei Klein 1996, 162 — 166; vgl. auch Baden-Württembergisches Pfarrerbuch I: Kraichgau-
Odenwald, Teil 2. Karlsruhe 1988, nr. 621. — Nach Eiselins Eintrag im Taufbuch waren seine Eltern in Hildrizhausen
„in coemiterio extra chorum templi ad angulum turris“ bestattet; im Chor befand sich ein „epitaphium“; Klein 209
Anm. 260.
6 Titel: Chronicon patriae Hilrizhusanae et Herrenbergicae, Stuttgart, HStA J1 Nr. 34, um 1620; nur in Abschrift
erhalten; ausführlich dazu Klein 1996, 166 Anm. 28.
7 Michael Klein hat den politischen und persönlichen Hintergrund ausführlich dargestellt; Klein 1996, passim. Hess
überliefert die Erklärung Eiselins als Vorspann zu seinem Zitat der Kircheninschrift; Hess, Chronik Herrenberg,
Exemplar HStA, p. 1607 f.
251