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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2003 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2003
DOI chapter:
Jahresfeier am 24. Mai 2003
DOI article:
Rösing, Ina: Die Inflation der Intelligenzen und das Konzept der Weisheit
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67592#0026
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JAHRESFEIER

zutreffen: die kristalline Dummheit vielleicht? Vielleicht die fluide? Oder die opera-
tive, Unästhetische, visuelle, intrapersonelle, moralische Dummheit? Oder die multi-
ple oder die Meta-Dummheit? Nach so viel demokratisch verteilter Intelligenz und
Dummheit verlangt es nach einem elitären Konzept: Weisheit.
WEISHEIT
Die Weisheit kam so spät auf die Bühne der sozialwissenschaftlichen Forschung, daß
zunächst sowohl die lange Vernachlässigung dieses Forschungsgegenstandes als auch
sein plötzliches Auftauchen behandelt werden muß - letzteres u.a. im Kontext der
genannten Zyklen der Wissenschaftsentwicklung.
Heute ist Weisheit em umfassender und heterogener Forschungsbereich und
die Zugänge reichen von der Untersuchung von Laientheorien zur Weisheit bis zu
Laboruntersuchungen weisen Handelns.
Eine Inhaltsanalyse sämtlicher gehandelter Weisheitsdefinitionen fuhrt zu der
Bestimmung von zwölf Elementen der Weisheit, über welche in der Weisheitsfor-
schung Konsens herrscht — zum Beispiel:
— ihr elitärer Charakter
— ihre Bezogenheit aut lebenspraktische, komplexe Probleme im Kontext von Un-
gewißheit
— ihre Fundierung in Wichtigkeits- (gegenüber Richtigkeits-) wissen und einer prä-
zise kennzeichenbaren weisheithchen Intelligenz (noch eine!, sie wurde soeben
erfunden)
— ihr Bewußtsein um die Grenzen von Wissen und um die Grenzen der Existenz,
den Tod.
In ihrer Umkehrung führen diese zwölf Konsenspunkte zu zwölf Unverein-
barkeitsthesen, zum Beispiel
— Weisheit ist nicht möglich, ohne die Erfahrung von Dunkelheit in der Welt.
— Weisheit findet nicht statt im Elfenbeinturm.
— Weisheit ist undenkbar ohne Bändigung des geltungsbedürftigen Ich.
— Weisheit ist unvereinbar mit Haß ...
Die Punkte des Konsenses der Weisheitsforschung führen aber auch zu Punk-
ten von Kontroverse und Kritik. Kritisiert wird u.a. die Geschlechtslosigkeit der
Weisheitsforschung, ihr ethno-zentrischer Charakter, ihre groteske Abspaltung von
der allgemeinen Werteforschung.
Der problematischste Aspekt der Weisheit aber — und hier blendet die Abhand-
lung zurück auf Konstruktivismus und Narrative Intelligenz (oder narrative Dumm-
heit) — ist die story, das Märchen zur Assoziation von Alter und Weisheit. Welches
gesellschaftliche Interesse besteht an dieser story, wer hat daran Interesse, wer ist
Erfinder und wer ist Mitspieler der story, was deckt diese story zu und was gilt es
möglicherweise gegen diese story zu stellen?
Der Vortrag endet auch mit einer Geschichte. Vielleicht, so besagt diese in
metaphorischer Weise, ist es besser, sich in jüngeren Jahren um Weisheit zu küm-
mern, als auf die Altersweisheit zu warten, eine Fiktion, welche einen älteren Men-
schen erst richtig ordentlich alt macht und ins Abseits stellt.
 
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