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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2003 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2003
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 7. Februar 2003
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Schmidt, Ernst A.: Rudolf Borchardts Antike
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https://doi.org/10.11588/diglit.67592#0042
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54 | SITZUNGEN

Band „Pindarische Gedichte“ heraus, wozu der Vortrag „Pindarische Restauration“,
auf Einladung Jaegers 1930 in Berlin gehalten, den Anstoß gegeben zu haben scheint.
Im Nachwort kämpft der Autor für das wahre Griechentum der Seele gegen das des
Mundes, das des Schweigens gegen das der Rede. Die Rede althellenischen hero-
ischen Knegertums war „noch eine Blüte des Schweigens“ gewesen. An die Stelle
des enthronten Homer und des Epos als der hellenischen Urpoesie tritt das von Pin-
dar repräsentierte Festlied. Der um fast drei Jahrhunderte spätere Pindar stellt die
geschichtlich ältere, ursprünglichere Dichtung dar. Seme Wiedergewinnung ist die
Wiedergewinnung Griechenlands. Er steht als später Erbe mitten im Kampfe, ja, er
kämpft nach schon verlorener Sache. Pindar ist, was er ist, nämlich altgriechische
Lyrik, als causa victa sowohl wie als Restaurator.
Das große Anathema heißt Ionien; die „Ionisierung und Homerisierung von
Hellas“ ist dessen Ende; „die ionische Rhapsodie“ ebenso wie „die ionische Demo-
kratie“ vernichten Althellas. Die Krakenarme dieses Ungeheuers heißen: „Demos“,
„zusammengewürfelte[n] Stadtvölker, mit Metöken und Freigelassenen“, „Individu-
alismus“, „Spaltung“, „Opposition“, „Kritik“, „Hybris“, Trennung der Forschung
von der Dichtung, „Haßpropaganda“ gegen die Dorer („Presse“), „Sieg des ioni-
schen Mundes, der Mündigkeit“, „Aufklärung“ statt ‘Verklärung’, Rationalismus,
Logos, Ursachenanalyse, daher narratives „Nach-und-Nach“ und zum romanhaften
‘Epos’ „abgründig denaturierendes heroisches Mythenerbe“, „populäre Literaturun-
sittlichkeit“, kurz: „Neuzeit“, „Moderne“. Das ist, auf eine Formel gebracht, Karl
Otfried Müllers Bild der Dorer verbunden mit Walter Paters Polarität der ionisch-
asiatischen zentrifugalen und der echt hellenisch dorischen zentripetalen Kräfte im
antiken Griechentum, übersetzt in die Sprache konservativer Kulturkritik der Wei-
marer Zeit.
Als Beispiel für einen Anfang sei „Das Gespräch über Formen und Platons
Lysis deutsch“ vorgestellt, eine der frühesten Arbeiten Borchardts (1900/01). Sie hat
den Zauber der Frühe. Der eigene Dialog, in der Tradition des platonischen Dialogs,
des Kleistschen „Uber das Marionettentheater“ und des Dialogs zwischen dem
Skeptiker Lukian und dem begeisterten Jüngling Hermotimus in Walter Paters
„Marius the Epicurean“ (1885) besitzt eine schwebende Leichtigkeit in ironischem
Parlando. Der ältere der beiden Gesprächsteilnehmer, Arnold, hat gerade den Lysis
übersetzt. Er ist eine Maske Borchardts; und da das Gespräch zwischen ihm und
Harry nicht kontrovers ist, hat der Jüngere an dieser Identität teil. Das ‘Gespräch’ ist
em Selbstgespräch Borchardts.
Borchardts wunderbare Hermeneutik des Übersetzens besagt, daß von der
„Ahnung“ der „inneren Form“ auszugehen sei, daß dem Übersetzen „leidenschaft-
licher Formensinn“ zugrundeliege, daß die Ahnung, in Verständnis des Kunstwerks
„in seinen eigenen Formen“ übergehend, der „Inkommensurabilität“ „dessen, was
Form hat“, innewerde. „Wer Formen fühlt, ist ein Liebender“. Das liebende Inne-
werden von Formen ist daher in einer Übersetzung Verwandlung in das eigene
unverwechselbare Erleben.
Wie hat Borchardt die Form des Lysis verstanden? Zwei komplementäre Aus-
sagen Arnolds liegen dazu vor. (i) Dem Gespräch hafte „ein sonderbar leichtfertiger
 
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