Friedrich Cramer | 195
Zeitlebens gab es neben dem Naturwissenschaftler noch einen anderen
Friedrich Cramer, der sich den Geisteswissenschaften und den Künsten verpflichtet
fühlte. In allen Lebensphasen entstanden Zeichnungen, Aquarelle, Gedichte und
Erlebtes wurde in kurzen Notaten festgehalten. Seine geisteswissenschaftlichen Nei-
gungen führten zu Vorträgen, Aufsätzen, Essays und Büchern, die er den philosophi-
schen Grundlagen der Naturwissenschaften und der Ethik in den Wissenschaften,
insbesondere der aufkommenden Gentechnologie widmete. In den neunziger Jahren
kam verstärkt eine literarische Produktion hinzu, in der sich Gedichte, Erzählerisches
und Autobiographisches mischte. Das spröde Curriculum Vitae eines Wissenschaft-
lers, das dieser Nachruf zeichnet, gewinnt in seinen autobiographischen Büchern
(1, 2) eine Lebendigkeit und Anschaulichkeit durch die Schilderung einer Kindheit
in einer bürgerlichen, preußisch-jüdischen Familie, einer Jugend, die nach 1933 von
der rassistisch motivierten Diskriminierung und Verfolgung naher Verwandter über-
schattet war - er selbst war vor den unmittelbaren Auswirkungen der Nürnberger
Rassengesetze durch eine geschickte, vom Vater rechtzeitig in die Wege geleitete
Manipulation von Tauf- und Heiratsregistern geschützt, durch die jüdische Vorfah-
ren arisiert wurden —, eines Studiums, das er seiner schweren Kriegsverletzung mit
bleibenden körperlichen Behinderungen abtrotzte und einer beruflichen Laufbahn,
die unter dem Imperativ stand, immer wieder Neues zu wagen und die Grenzen der
eigenen Fachdisziplin zu überschreiten. So überrascht es nicht, unter den späten
Auszeichnungen Friedrich Cramers die Wahl zum Fellow am Wissenschaftskolleg zu
Berlin (1989—1990) und die Verleihung des Karl-Vossler-Literaturpreises der Bayri-
schen Staatsregierung (1990), beides für einen Naturwissenschaftler eher unge-
wöhnliche Ehrungen, zu finden.
1. F. Cramer (1995) Kindheit, Jugend und Krieg - Erinnerungen, Insel-Verlag,
Frankfurt a.M.
2. F. Cramer (1999) Wie Hiob leben — Erinnerungen, Deutsche Verlagsanstalt Stutt-
gart
KURT VON FIGURA
Zeitlebens gab es neben dem Naturwissenschaftler noch einen anderen
Friedrich Cramer, der sich den Geisteswissenschaften und den Künsten verpflichtet
fühlte. In allen Lebensphasen entstanden Zeichnungen, Aquarelle, Gedichte und
Erlebtes wurde in kurzen Notaten festgehalten. Seine geisteswissenschaftlichen Nei-
gungen führten zu Vorträgen, Aufsätzen, Essays und Büchern, die er den philosophi-
schen Grundlagen der Naturwissenschaften und der Ethik in den Wissenschaften,
insbesondere der aufkommenden Gentechnologie widmete. In den neunziger Jahren
kam verstärkt eine literarische Produktion hinzu, in der sich Gedichte, Erzählerisches
und Autobiographisches mischte. Das spröde Curriculum Vitae eines Wissenschaft-
lers, das dieser Nachruf zeichnet, gewinnt in seinen autobiographischen Büchern
(1, 2) eine Lebendigkeit und Anschaulichkeit durch die Schilderung einer Kindheit
in einer bürgerlichen, preußisch-jüdischen Familie, einer Jugend, die nach 1933 von
der rassistisch motivierten Diskriminierung und Verfolgung naher Verwandter über-
schattet war - er selbst war vor den unmittelbaren Auswirkungen der Nürnberger
Rassengesetze durch eine geschickte, vom Vater rechtzeitig in die Wege geleitete
Manipulation von Tauf- und Heiratsregistern geschützt, durch die jüdische Vorfah-
ren arisiert wurden —, eines Studiums, das er seiner schweren Kriegsverletzung mit
bleibenden körperlichen Behinderungen abtrotzte und einer beruflichen Laufbahn,
die unter dem Imperativ stand, immer wieder Neues zu wagen und die Grenzen der
eigenen Fachdisziplin zu überschreiten. So überrascht es nicht, unter den späten
Auszeichnungen Friedrich Cramers die Wahl zum Fellow am Wissenschaftskolleg zu
Berlin (1989—1990) und die Verleihung des Karl-Vossler-Literaturpreises der Bayri-
schen Staatsregierung (1990), beides für einen Naturwissenschaftler eher unge-
wöhnliche Ehrungen, zu finden.
1. F. Cramer (1995) Kindheit, Jugend und Krieg - Erinnerungen, Insel-Verlag,
Frankfurt a.M.
2. F. Cramer (1999) Wie Hiob leben — Erinnerungen, Deutsche Verlagsanstalt Stutt-
gart
KURT VON FIGURA