Das WIN-Kolleg | 311
Autoren die rationale Erkenntnis mit Blick auf die dem Menschen grundsätzlich
zugestandene Fähigkeit zur intellektuellen Einsicht in das, was die Dinge, wenn nicht
sogar das Weltganze, eigentlich, und das heißt: hinter ihrer kontingenten, von äuße-
ren Bedingungen abhängigen Wirklichkeit sind. Gerade aber auf diese Bedingungen
richtet sich die rationale Erkenntnis im engeren Sinne, die das im räumlichen
Neben- und zeitlichen Nacheinander seiner Merkmale aufgefaßte Einzelne zu
rekonstruieren sucht. Wie selbstverständlich gehen die früheren Autoren davon aus,
daß begrifflich-rationale Erkenntnis in diesem Verständnis nur möglich ist, wenn die
intellektuelle Einsicht bereits vorausgesetzt werden kann. Als schlechterdings einfa-
ches und unbedingtes, gleichwohl aber auf das Ganze ausgreifendes Erkenntnisge-
schehen entzieht sich die intelligentia freilich der diskursiven, begrifflichen Vermitt-
lung. An deren Stelle tritt die symbolische Explikation, die den Rahmen absteckt, in
dem die begriffliche Rationalität überhaupt erst agieren kann. Das Symbol als Ver-
gegenwärtigung des Ganzen überbrückt auf diese Weise den Hiat zwischen der sinn-
lich-rationalen Erkenntnis des Einzelnen, also der Teile, und der Einsicht in das
Ganze. Die im engeren Sinne symbolische Welterschließung steht unter der erkennt-
nisoptimistischen Prämisse, daß der Mensch zu einer metempinschen Form des
Erkennens oder noch eher: des Wissens grundsätzlich im Stande ist. Diese wird nicht
von der Sinnlichkeit her durch Abstraktion aufgebaut, sondern muß schon voraus-
gesetzt werden, damit das bei der sinnlichen Wahrnehmung ansetzende begrifflich-
rationale Erkenntnisgeschehen überhaupt beginnen kann. Die Universalisierung und
Formalisierung der wissenschaftlichen Erkenntnis ist demnach nicht als eine Kom-
petenzerweiterung des menschlichen Erkenntnisvermögens zu verstehen, sondern
vielmehr als eine Kompetenzbeschneidung, als Verzicht auf eine grundsätzlich
erkenntnisoptimistische Position.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen gilt unser Interesse bei der weite-
ren Arbeit den inneren Gründen, die dazu führen, daß die konstitutive Rückbindung
der ratio an die intelligentia sowie der damit einhergehende Erkenntnisoptimismus
aufgegeben und die begrifflich-rationale zur einzigen wissenschaftlichen Form der
Erkenntnis erhoben wird. Diese Akzentverschiebung zugunsten der umversahsierten
Rationalität im Bereich der Wissenschaften bedingt zugleich, daß der welter-
schließende Deutungsrahmen, der sicherstellt, daß, wie und weshalb überhaupt etwas
erkannt werden kann, aus dem Erkenntnisgeschehen selbst ausgelagert wird. Dieser
rationalitätsgeschichtlich höchst relevante Vorgang steht - so lassen die bisherigen
Arbeitsergebnisse erschließen — im Zusammenhang mit einer internen Veränderung
in der Rezeption und Interpretation der bis weit in das Hochmittelalter hinein für
das wissenschaftliche Denken fundamentalen Schriften des Augustinus und des
Boethius, zunächst seiner Kommentare über die Schriften des Aristotelischen
„Organon“, seiner „Anthmetica“, dann aber auch seiner weiteren Werke, nament-
lich der „Consolatio“ und des kleinen Traktats „De hebdomadibus“. Die letztge-
nannte Schrift, oft kommentiert, stellt die konzeptionellen Voraussetzungen der
‘neuen’ hypothetisch-axiomatischen Wissenschaftlichkeit bereit, die verstärkt akti-
viert werden, sobald die immanenten Verschiebungen der Augustinus- und Boethius-
mterpretation ein entsprechendes Bedürfnis entstehen lassen. Inwieweit dieser Pro-
Autoren die rationale Erkenntnis mit Blick auf die dem Menschen grundsätzlich
zugestandene Fähigkeit zur intellektuellen Einsicht in das, was die Dinge, wenn nicht
sogar das Weltganze, eigentlich, und das heißt: hinter ihrer kontingenten, von äuße-
ren Bedingungen abhängigen Wirklichkeit sind. Gerade aber auf diese Bedingungen
richtet sich die rationale Erkenntnis im engeren Sinne, die das im räumlichen
Neben- und zeitlichen Nacheinander seiner Merkmale aufgefaßte Einzelne zu
rekonstruieren sucht. Wie selbstverständlich gehen die früheren Autoren davon aus,
daß begrifflich-rationale Erkenntnis in diesem Verständnis nur möglich ist, wenn die
intellektuelle Einsicht bereits vorausgesetzt werden kann. Als schlechterdings einfa-
ches und unbedingtes, gleichwohl aber auf das Ganze ausgreifendes Erkenntnisge-
schehen entzieht sich die intelligentia freilich der diskursiven, begrifflichen Vermitt-
lung. An deren Stelle tritt die symbolische Explikation, die den Rahmen absteckt, in
dem die begriffliche Rationalität überhaupt erst agieren kann. Das Symbol als Ver-
gegenwärtigung des Ganzen überbrückt auf diese Weise den Hiat zwischen der sinn-
lich-rationalen Erkenntnis des Einzelnen, also der Teile, und der Einsicht in das
Ganze. Die im engeren Sinne symbolische Welterschließung steht unter der erkennt-
nisoptimistischen Prämisse, daß der Mensch zu einer metempinschen Form des
Erkennens oder noch eher: des Wissens grundsätzlich im Stande ist. Diese wird nicht
von der Sinnlichkeit her durch Abstraktion aufgebaut, sondern muß schon voraus-
gesetzt werden, damit das bei der sinnlichen Wahrnehmung ansetzende begrifflich-
rationale Erkenntnisgeschehen überhaupt beginnen kann. Die Universalisierung und
Formalisierung der wissenschaftlichen Erkenntnis ist demnach nicht als eine Kom-
petenzerweiterung des menschlichen Erkenntnisvermögens zu verstehen, sondern
vielmehr als eine Kompetenzbeschneidung, als Verzicht auf eine grundsätzlich
erkenntnisoptimistische Position.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen gilt unser Interesse bei der weite-
ren Arbeit den inneren Gründen, die dazu führen, daß die konstitutive Rückbindung
der ratio an die intelligentia sowie der damit einhergehende Erkenntnisoptimismus
aufgegeben und die begrifflich-rationale zur einzigen wissenschaftlichen Form der
Erkenntnis erhoben wird. Diese Akzentverschiebung zugunsten der umversahsierten
Rationalität im Bereich der Wissenschaften bedingt zugleich, daß der welter-
schließende Deutungsrahmen, der sicherstellt, daß, wie und weshalb überhaupt etwas
erkannt werden kann, aus dem Erkenntnisgeschehen selbst ausgelagert wird. Dieser
rationalitätsgeschichtlich höchst relevante Vorgang steht - so lassen die bisherigen
Arbeitsergebnisse erschließen — im Zusammenhang mit einer internen Veränderung
in der Rezeption und Interpretation der bis weit in das Hochmittelalter hinein für
das wissenschaftliche Denken fundamentalen Schriften des Augustinus und des
Boethius, zunächst seiner Kommentare über die Schriften des Aristotelischen
„Organon“, seiner „Anthmetica“, dann aber auch seiner weiteren Werke, nament-
lich der „Consolatio“ und des kleinen Traktats „De hebdomadibus“. Die letztge-
nannte Schrift, oft kommentiert, stellt die konzeptionellen Voraussetzungen der
‘neuen’ hypothetisch-axiomatischen Wissenschaftlichkeit bereit, die verstärkt akti-
viert werden, sobald die immanenten Verschiebungen der Augustinus- und Boethius-
mterpretation ein entsprechendes Bedürfnis entstehen lassen. Inwieweit dieser Pro-