Autorität und Strahlkraft
Zur Wirkmacht mittelalterlicher Ordensregeln
Jörg Sonntag
Von Franziskus geschickt, begab sich Bruder Bernhard nach Bologna. „Als ihn
die Kinder [dort] in seinem ungewohnten und schäbigen Habit sahen, überhäuf-
ten sie ihn mit Verspottungen und Beleidigungen Dies alles ertrug Bruder
Bernhard geduldig und fröhlich um der Liebe Christi willen. Ja, [...] er stellte sich
absichtlich auf den Marktplatz. [Dort] versammelten sich um ihn viele Kinder
und Erwachsene, wobei [...] der eine ihn mit Staub bewarf, der andere mit Stei-
nen, der eine ihn dorthin stieß, der andere dahin. Bruder Bernhard [...] verharrte
in Geduld mit heiterem Antlitz [...]. Mehrere Tage lang kehrte er an denselben
Platz zurück, um diese Dinge zu ertragen [ ... ]. Ein weiser Rechtsgelehrter [...]
beobachtete diese Standhaftigkeit und Tugend [...], trat auf Bernhard zu und
fragte: ,Wer bist du und warum bist du hierher gekommen?“ An Stelle einer Ant-
wort griff Bruder Bernhard mit seiner Hand in die Brusttasche, zog die Regel des
heiligen Franziskus hervor und gab sie ihm zu lesen. Als der Weise sie gelesen
hatte und ihren hohen Grad an Vollkommenheit (suo altissimo stato diperfezione)
bedachte, wandte er sich mit großem Staunen und mit Verwunderung an seine
Gefährten und sagte: ,Wahrhaftig, das ist die höchste Form des Ordenslebens (z7
piü alto stato di religione), von der ich je gehört habe. Deshalb gehört dieser da
mitsamt seinen Gefährten zu den heiligsten Menschen dieser Welt [...], denn es
steht fest, dass er ein großer Freund Gottes ist““.1
Dieses Zitat stammt aus den im 14. Jahrhundert verfassten franziskanischen
Fioretti, der volkssprachlichen Fassung der Actus b. Francisci et sociorum eins
aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, und stößt ins Zentrum dessen vor, was Ge-
genstand des folgenden Beitrages sein soll - die Autorität und Strahlkraft der
Ordensregeln. Dabei handelt es sich zweifelsfrei um ein Thema, das die vita
rehgiosa das gesamte Mittelalter hindurch bewegte, das fest eingebunden war in
einen vielgestaltigen, von Legitimation und Delegitimation beflügelten Wettlauf
1 I Fioretti di San Francesco, ed. Felice Accrocca, cap. V, in: Fonti Francescane, hg. v. Carlo
Paolazzi (u. a.), Padova 32015, S. 1141f.; vgl. auch den Urtext, die Actus beati Francisci et
sociorum eius, in: Fontes Franciscani, ed. Enrico MENESTÖ/Stefano Bufani u. a., Assisi 1995,
cap. IV, S. 2094-2096 (Zitat S. 2095): [...] et accedens ad fr. Bernardum, dixit: „ Quis es tu et ad
quid hucvenisti?“. Fr. vero Bernardus misit manum in sinum etprotulit regulam evangehcam
s. Francisci, quam in corde portabat et opere ostendat [...].
Zur Wirkmacht mittelalterlicher Ordensregeln
Jörg Sonntag
Von Franziskus geschickt, begab sich Bruder Bernhard nach Bologna. „Als ihn
die Kinder [dort] in seinem ungewohnten und schäbigen Habit sahen, überhäuf-
ten sie ihn mit Verspottungen und Beleidigungen Dies alles ertrug Bruder
Bernhard geduldig und fröhlich um der Liebe Christi willen. Ja, [...] er stellte sich
absichtlich auf den Marktplatz. [Dort] versammelten sich um ihn viele Kinder
und Erwachsene, wobei [...] der eine ihn mit Staub bewarf, der andere mit Stei-
nen, der eine ihn dorthin stieß, der andere dahin. Bruder Bernhard [...] verharrte
in Geduld mit heiterem Antlitz [...]. Mehrere Tage lang kehrte er an denselben
Platz zurück, um diese Dinge zu ertragen [ ... ]. Ein weiser Rechtsgelehrter [...]
beobachtete diese Standhaftigkeit und Tugend [...], trat auf Bernhard zu und
fragte: ,Wer bist du und warum bist du hierher gekommen?“ An Stelle einer Ant-
wort griff Bruder Bernhard mit seiner Hand in die Brusttasche, zog die Regel des
heiligen Franziskus hervor und gab sie ihm zu lesen. Als der Weise sie gelesen
hatte und ihren hohen Grad an Vollkommenheit (suo altissimo stato diperfezione)
bedachte, wandte er sich mit großem Staunen und mit Verwunderung an seine
Gefährten und sagte: ,Wahrhaftig, das ist die höchste Form des Ordenslebens (z7
piü alto stato di religione), von der ich je gehört habe. Deshalb gehört dieser da
mitsamt seinen Gefährten zu den heiligsten Menschen dieser Welt [...], denn es
steht fest, dass er ein großer Freund Gottes ist““.1
Dieses Zitat stammt aus den im 14. Jahrhundert verfassten franziskanischen
Fioretti, der volkssprachlichen Fassung der Actus b. Francisci et sociorum eins
aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, und stößt ins Zentrum dessen vor, was Ge-
genstand des folgenden Beitrages sein soll - die Autorität und Strahlkraft der
Ordensregeln. Dabei handelt es sich zweifelsfrei um ein Thema, das die vita
rehgiosa das gesamte Mittelalter hindurch bewegte, das fest eingebunden war in
einen vielgestaltigen, von Legitimation und Delegitimation beflügelten Wettlauf
1 I Fioretti di San Francesco, ed. Felice Accrocca, cap. V, in: Fonti Francescane, hg. v. Carlo
Paolazzi (u. a.), Padova 32015, S. 1141f.; vgl. auch den Urtext, die Actus beati Francisci et
sociorum eius, in: Fontes Franciscani, ed. Enrico MENESTÖ/Stefano Bufani u. a., Assisi 1995,
cap. IV, S. 2094-2096 (Zitat S. 2095): [...] et accedens ad fr. Bernardum, dixit: „ Quis es tu et ad
quid hucvenisti?“. Fr. vero Bernardus misit manum in sinum etprotulit regulam evangehcam
s. Francisci, quam in corde portabat et opere ostendat [...].