Theorie für die Praxis I 157
viduation bezeichnen hier die beiden Pole, zwischen denen sich die Existenz
der Klostergelehrten am Hof entwickeln konnte und die sie besonderen Her-
ausforderungen aussetzte. Mario Biagioli hat 1994 in seiner Studie zu Galileo
Galilei als Höfling am Schicksal eines laikalen Wissenschaftlers des 16. Jahr-
hunderts die Untiefen der Hofexistenz von Gelehrten exemplarisch aufge-
zeigt.29 Um die zitierte Formulierung von Antonio Pin nochmals aufzuneh-
men: Ist ein Klostergelehrter wie Luca Pacioli in seiner Rolle als clericus vagans
vorrangig als Ordensangehöriger oder als Gelehrter, als Kirchenmann oder als
Wissenschaftler anzusprechen und wie ist seine soziale Rolle in der umgeben-
den laikalen Welt als Kriterium bei der Beurteilung seiner gesellschaftlichen
Position einzubringen?
4. Kloster und Königsdienst.
Die Tradition der Benediktiner von St-Denis
In seinem letzten, 2016 posthum veröffentlichten Werk hat der französische Me-
diävist und besondere Kenner der hofnahen Historiographie, Bernard Guenee,
die intellektuelle Strategie bei der Entstehung des Roman des roys, der ersten
Version der später so genannten Grandes Chroniques de France, analysiert.30
Das Buch ist unter dem programmatischen Titel „Comment on ecrit l’histoire
au XHIe siede“ erschienen. Als Verfasser des Romans identifiziert Guenee den
1277 verstorbenen Primat, Mönch an der Benediktinerabtei St-Denis nördlich
von Paris in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. In derselben Zeit wuchs
dieser Abtei durch königliche Entscheidung die Rolle eines zentralen Ortes für
das französische Königtum zu: St-Denis wurde zum Ort der Herrschergrablege
der regierenden Dynastie und der Verwahrung des für die Königskrönung in
Reims verwendeten heiligen Öls.
Zugleich gelang es den Mönchen von St-Denis, ihr Kloster als scriptorium der
Historiographie des Königreichs Frankreich zu etablieren (Abb. 2). Diese Position
konnten sie bis zum Spätmittelalter bewahren, denn trotz organisatorischer Ein-
griffe unter Karl V. in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts blieb die Herstellung
und weitestgehend auch die Redaktion der hofnahen Chronistik an St-Denis
gebunden. Anders als andere Konvente, hatte St-Denis seit langem die Textpro-
duktion seines Skriptoriums neben liturgischen programmatisch auf historiogra-
29 Mario Biagioli, Galileo, Courtier. The Practice of Science in the Practice of Absolutism,
Chicago/London 1994.
30 Bernard Guenee, Comment on ecnt l’histoire au Ille siede. Primat et le Roman des roys, hg.
von Jean-Marie Moeglin, Paris 2016, hier S. 13f.
viduation bezeichnen hier die beiden Pole, zwischen denen sich die Existenz
der Klostergelehrten am Hof entwickeln konnte und die sie besonderen Her-
ausforderungen aussetzte. Mario Biagioli hat 1994 in seiner Studie zu Galileo
Galilei als Höfling am Schicksal eines laikalen Wissenschaftlers des 16. Jahr-
hunderts die Untiefen der Hofexistenz von Gelehrten exemplarisch aufge-
zeigt.29 Um die zitierte Formulierung von Antonio Pin nochmals aufzuneh-
men: Ist ein Klostergelehrter wie Luca Pacioli in seiner Rolle als clericus vagans
vorrangig als Ordensangehöriger oder als Gelehrter, als Kirchenmann oder als
Wissenschaftler anzusprechen und wie ist seine soziale Rolle in der umgeben-
den laikalen Welt als Kriterium bei der Beurteilung seiner gesellschaftlichen
Position einzubringen?
4. Kloster und Königsdienst.
Die Tradition der Benediktiner von St-Denis
In seinem letzten, 2016 posthum veröffentlichten Werk hat der französische Me-
diävist und besondere Kenner der hofnahen Historiographie, Bernard Guenee,
die intellektuelle Strategie bei der Entstehung des Roman des roys, der ersten
Version der später so genannten Grandes Chroniques de France, analysiert.30
Das Buch ist unter dem programmatischen Titel „Comment on ecrit l’histoire
au XHIe siede“ erschienen. Als Verfasser des Romans identifiziert Guenee den
1277 verstorbenen Primat, Mönch an der Benediktinerabtei St-Denis nördlich
von Paris in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. In derselben Zeit wuchs
dieser Abtei durch königliche Entscheidung die Rolle eines zentralen Ortes für
das französische Königtum zu: St-Denis wurde zum Ort der Herrschergrablege
der regierenden Dynastie und der Verwahrung des für die Königskrönung in
Reims verwendeten heiligen Öls.
Zugleich gelang es den Mönchen von St-Denis, ihr Kloster als scriptorium der
Historiographie des Königreichs Frankreich zu etablieren (Abb. 2). Diese Position
konnten sie bis zum Spätmittelalter bewahren, denn trotz organisatorischer Ein-
griffe unter Karl V. in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts blieb die Herstellung
und weitestgehend auch die Redaktion der hofnahen Chronistik an St-Denis
gebunden. Anders als andere Konvente, hatte St-Denis seit langem die Textpro-
duktion seines Skriptoriums neben liturgischen programmatisch auf historiogra-
29 Mario Biagioli, Galileo, Courtier. The Practice of Science in the Practice of Absolutism,
Chicago/London 1994.
30 Bernard Guenee, Comment on ecnt l’histoire au Ille siede. Primat et le Roman des roys, hg.
von Jean-Marie Moeglin, Paris 2016, hier S. 13f.