224 I Julia Burkhardt
lungsregeln“ bewusst macht, vermag dieser sich in der „Vielfalt von äußeren
Handlungsbedingungen“ zu orientieren. Auf diese Weise wird durch das exem-
plarische Erzählen „Zeit zu einer Reihe von Anwendungsfällen zeitlos geltender
Handlungsregeln.“9
3. Aus der (Selbst-)Verortung des Einzelnen in der gegenwärtigen Ausgestal-
tung von Regeln folgt beinahe zwangsläufig eine Handlungsanleitung oder so-
gar Zukunftsweisung.10
4. Eine beständige Auseinandersetzung mit gemeinschaftlichen Normen, die
in der Vergangenheit gründen, in der Gegenwart zur Geltung kommen und lei-
tend für die Zukunft sind, erscheint vor diesem Hintergrund als zentrale Vor-
aussetzung für Gemeinschafts- bzw. Identitätsbildung oder auch -Versicherung.
Regelkompetenz (hier erneut im Sinne des Eingangsbeispiels gedacht) kann so-
mit als Bedingung eines erfolgreichen Beitrags zu einer Gemeinschaft verstan-
den werden; neben soziale Praktiken, deren gemeinschaftsbildende Bedeutung
in der jüngeren mediävistischen Forschung betont wurden, können somit narra-
tive Praktiken treten.11
Zieht man nun jene Texte und Sammlungen zu Rate, in denen Exempel im
Hoch- und Spätmittelalter zur Anwendung kamen, so lassen sich mehrere „An-
wendungsgebiete“ unterscheiden. Mit dem Tractatus des Stephan von Bourbon
ist uns bereits ein Typus begegnet, nämlich die Zusammenstellung und Anord-
nung von Exempeln nach theologischen Gesichtspunkten. Bei dieser Art der
Exempel-Verarbeitung tritt der ursprüngliche Erzählzusammenhang, greifbar
etwa in zeitlichem Kontext, sozialer Umgebung oder einzelnen Akteuren, hin-
ter das übergreifende Schema zurück. Dem vergleichbar ist ein chronologisches
Ordnungsschema, in das vornehmlich historische Exempel zur Ausgestaltung
zeitlicher Abläufe (nicht aber historiographischer Zusammenhänge) eingefloch-
ten wurden, wie zum Beispiel im Fall des Speculum historiale des Dominikaners
Vinzenz von Beauvais (gest. um 1264).12 Analog zu diesen beiden Ordnungs-
schemata zeichnet schließlich einen dritten Typus die Orientierung an sozialen
oder ständischen Kategorien aus; neben klassischen Exempel-Büchern ad Status
9 Für die beiden ersten Hypothesen s. Rüsen, Vier Typen (wie Anm. 7), S. 182 (Zitate).
10 Rüsen, Vier Typen (wie Anm. 7), S. 189.
11 Grundlegend hierzu: Christina Lutter, Social Groups, Personal Relations, and the Making
of Communities in Medieval vita monastica, in: Jörg Rogge (Hg.), Making Sense as a Cultu-
ral Practice. Historical Perspectives (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 18), Biele-
feld 2013, S. 45-61. S. außerdem Andrea L. Winkler, Building the Imagined Community:
Dominican Exempla and Theological Knowledge, in: Quidditas 19 (1998), S. 197-226 sowie
Rüsen, Vier Typen (wie Anm. 7), S. 170.
12 Zu Vincent s. die Beiträge in: Serge LusiGNAN/Marie-Christine Duchenne (Hgg.), Lector
et compilator. Vincent de Beauvais, frere precheur: un mtellectuel et son miheu au XIIF siec-
le (Collection Rencontres ä Royaumont 9), Paris 1997.
lungsregeln“ bewusst macht, vermag dieser sich in der „Vielfalt von äußeren
Handlungsbedingungen“ zu orientieren. Auf diese Weise wird durch das exem-
plarische Erzählen „Zeit zu einer Reihe von Anwendungsfällen zeitlos geltender
Handlungsregeln.“9
3. Aus der (Selbst-)Verortung des Einzelnen in der gegenwärtigen Ausgestal-
tung von Regeln folgt beinahe zwangsläufig eine Handlungsanleitung oder so-
gar Zukunftsweisung.10
4. Eine beständige Auseinandersetzung mit gemeinschaftlichen Normen, die
in der Vergangenheit gründen, in der Gegenwart zur Geltung kommen und lei-
tend für die Zukunft sind, erscheint vor diesem Hintergrund als zentrale Vor-
aussetzung für Gemeinschafts- bzw. Identitätsbildung oder auch -Versicherung.
Regelkompetenz (hier erneut im Sinne des Eingangsbeispiels gedacht) kann so-
mit als Bedingung eines erfolgreichen Beitrags zu einer Gemeinschaft verstan-
den werden; neben soziale Praktiken, deren gemeinschaftsbildende Bedeutung
in der jüngeren mediävistischen Forschung betont wurden, können somit narra-
tive Praktiken treten.11
Zieht man nun jene Texte und Sammlungen zu Rate, in denen Exempel im
Hoch- und Spätmittelalter zur Anwendung kamen, so lassen sich mehrere „An-
wendungsgebiete“ unterscheiden. Mit dem Tractatus des Stephan von Bourbon
ist uns bereits ein Typus begegnet, nämlich die Zusammenstellung und Anord-
nung von Exempeln nach theologischen Gesichtspunkten. Bei dieser Art der
Exempel-Verarbeitung tritt der ursprüngliche Erzählzusammenhang, greifbar
etwa in zeitlichem Kontext, sozialer Umgebung oder einzelnen Akteuren, hin-
ter das übergreifende Schema zurück. Dem vergleichbar ist ein chronologisches
Ordnungsschema, in das vornehmlich historische Exempel zur Ausgestaltung
zeitlicher Abläufe (nicht aber historiographischer Zusammenhänge) eingefloch-
ten wurden, wie zum Beispiel im Fall des Speculum historiale des Dominikaners
Vinzenz von Beauvais (gest. um 1264).12 Analog zu diesen beiden Ordnungs-
schemata zeichnet schließlich einen dritten Typus die Orientierung an sozialen
oder ständischen Kategorien aus; neben klassischen Exempel-Büchern ad Status
9 Für die beiden ersten Hypothesen s. Rüsen, Vier Typen (wie Anm. 7), S. 182 (Zitate).
10 Rüsen, Vier Typen (wie Anm. 7), S. 189.
11 Grundlegend hierzu: Christina Lutter, Social Groups, Personal Relations, and the Making
of Communities in Medieval vita monastica, in: Jörg Rogge (Hg.), Making Sense as a Cultu-
ral Practice. Historical Perspectives (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 18), Biele-
feld 2013, S. 45-61. S. außerdem Andrea L. Winkler, Building the Imagined Community:
Dominican Exempla and Theological Knowledge, in: Quidditas 19 (1998), S. 197-226 sowie
Rüsen, Vier Typen (wie Anm. 7), S. 170.
12 Zu Vincent s. die Beiträge in: Serge LusiGNAN/Marie-Christine Duchenne (Hgg.), Lector
et compilator. Vincent de Beauvais, frere precheur: un mtellectuel et son miheu au XIIF siec-
le (Collection Rencontres ä Royaumont 9), Paris 1997.