Außerhalb oder innerhalb?
Das Paradox der mönchischen Existenz im Westen
Jean-Claude Schmitt
Zweck meiner Ausführungen ist es nicht, einzelne Aspekte der Geschichte des
Mönchtums in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, sondern einige allge-
meine Reflexionen über das Phänomen des Monastischen und seinen Platz in der
lateinischen Kirche des Mittelalters anzustellen, wobei ich mich nicht auf die
monachi beschränken möchte, sondern auch den regulierten Klerus einbeziehe -
ja im Grunde all jene, die einer regula folgen, einen ordo bilden und sich religiosi
nennen. Dabei stütze ich mich auf zahlreiche Arbeiten von Historikern und in
erster Linie auf Gert Melvilles wertvolle Synthese, die unter dem facettenrei-
chen Thema der „Klöster“ eben alle regulären und konventualen „Lebens-
formen“, von den Einsiedlern über die Brüder der Bettelorden bis hin zu den
Regularkanonikern, mit einbezieht, ohne sich auf die Klöster im engeren Sinne
zu beschränken.1
In den Mittelpunkt meiner Überlegungen stelle ich den Begriff des Parado-
xons oder der Spannung zwischen zwei sich widersprechenden und doch zusam-
mengehörigen Merkmalen der Institution des Monastischen: zwischen einerseits
dem Ideal der Flucht aus der Welt (fuga mundi) zugunsten eines Gemeinschafts-
lebens, das von einer Regel geordnet wird, die Askese, Gebet und Kontempla-
tion vorschreibt; und andererseits der unvermeidlichen Einbindung der Religiö-
sen in die Welt, ja sogar ihrer aktiven Teilnahme am Weltgeschehen. Diese
Spannung zwischen dem Rückzug in die Innerlichkeit des geistlichen Lebens
und an den Ort des Gemeinschaftslebens, den die monastische Literatur so oft
durch das Adverb intus ausdrückt, und der nicht weniger starken Versuchung
der Exteriorität - foris - hat eine institutionelle Dynamik hervorgebracht, die
zur unaufhörlichen Entstehung neuer religiöser Orden geführt hat. Die Zeit-
genossen waren sich dessen klar bewusst: Im 12. Jahrhundert nahm der anonyme
Libellus de diversis ordinibus et professionibus qui sunt in ecclesia2 die jüngsten
Gründungen einer großen Anzahl neuer Orden zur Kenntnis, und zwischen
1 Gert Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen,
München 2012.
Das Paradox der mönchischen Existenz im Westen
Jean-Claude Schmitt
Zweck meiner Ausführungen ist es nicht, einzelne Aspekte der Geschichte des
Mönchtums in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, sondern einige allge-
meine Reflexionen über das Phänomen des Monastischen und seinen Platz in der
lateinischen Kirche des Mittelalters anzustellen, wobei ich mich nicht auf die
monachi beschränken möchte, sondern auch den regulierten Klerus einbeziehe -
ja im Grunde all jene, die einer regula folgen, einen ordo bilden und sich religiosi
nennen. Dabei stütze ich mich auf zahlreiche Arbeiten von Historikern und in
erster Linie auf Gert Melvilles wertvolle Synthese, die unter dem facettenrei-
chen Thema der „Klöster“ eben alle regulären und konventualen „Lebens-
formen“, von den Einsiedlern über die Brüder der Bettelorden bis hin zu den
Regularkanonikern, mit einbezieht, ohne sich auf die Klöster im engeren Sinne
zu beschränken.1
In den Mittelpunkt meiner Überlegungen stelle ich den Begriff des Parado-
xons oder der Spannung zwischen zwei sich widersprechenden und doch zusam-
mengehörigen Merkmalen der Institution des Monastischen: zwischen einerseits
dem Ideal der Flucht aus der Welt (fuga mundi) zugunsten eines Gemeinschafts-
lebens, das von einer Regel geordnet wird, die Askese, Gebet und Kontempla-
tion vorschreibt; und andererseits der unvermeidlichen Einbindung der Religiö-
sen in die Welt, ja sogar ihrer aktiven Teilnahme am Weltgeschehen. Diese
Spannung zwischen dem Rückzug in die Innerlichkeit des geistlichen Lebens
und an den Ort des Gemeinschaftslebens, den die monastische Literatur so oft
durch das Adverb intus ausdrückt, und der nicht weniger starken Versuchung
der Exteriorität - foris - hat eine institutionelle Dynamik hervorgebracht, die
zur unaufhörlichen Entstehung neuer religiöser Orden geführt hat. Die Zeit-
genossen waren sich dessen klar bewusst: Im 12. Jahrhundert nahm der anonyme
Libellus de diversis ordinibus et professionibus qui sunt in ecclesia2 die jüngsten
Gründungen einer großen Anzahl neuer Orden zur Kenntnis, und zwischen
1 Gert Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen,
München 2012.