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Anzulewicz, Henryk; Breitenstein, Mirko [Hrsg.]; Melville, Gert [Hrsg.]
Die Wirkmacht klösterlichen Lebens: Modelle - Ordnungen - Kompetenzen - Konzepte — Klöster als Innovationslabore, Band 6: Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.54634#0304
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300 I Stefan Weinfurter

nehmen und tragen zu müssen. Der „Heilswert“ einer frommen Lebensweise
verschmolz auf diese Weise mit dem „Funktionswert“ der Verantwortlichkeit
für den Mitmenschen. Um dieser Funktion möglichst gerecht zu werden, musste
sich der einzelne in der Gemeinschaft vorbereiten für den Kampf gegen das Böse
in der Welt. Er bildete sich im Kloster aus wie ein Kämpfer, ein „Athlet Christi“,
um das Gute in der Welt erfolgreich vertreten zu können und die anderen Men-
schen für das Gute zu gewinnen.
Wir stehen mit diesen Vorgängen vor einer ersten umfassenden reformeri-
schen „Massenbewegung“ des Mittelalters, die weniger von oben m Gang ge-
setzt wurde, als vielmehr aus einem inneren Impetus heraus ihre Kraft entfal-
tete. Allerdings haben die kirchlichen und weltlichen Eliten von Beginn an den
Siegeszug des neuen Lebensideals begleitet und kräftig gefördert. Schon auf der
Lateransynode von 1059 wurde die Erneuerung der Urkirchengemeinschaft als
Programm propagiert. Hildebrand, der spätere Papst Gregor VII., spielte dabei
eine führende Rolle. Auch eine Reihe von Bischöfen in der gesamten westlichen
Christenheit unterstützte diesen Aufbruch der Nächstenliebe und Nächsten-
fürsorge in mannigfacher Weise, sei es durch Schenkungen, durch rechtliche
Privilegierungen oder durch eigene Gründungen von Konventen.
Dieser höchst dynamische Prozess ist heute durch zahlreiche Forschungen
erhellt. Und doch sind die Konsequenzen, die daraus für die Entwicklung und
die Prägung gesellschaftlicher Ordnungskonstellationen entstanden sind, wenig
beachtet worden. Beispielsweise wäre darauf zu verweisen, welch immense Be-
deutung diese Bewegung für das Ansehen und die Rolle der Frau in der damali-
gen Gesellschaft hatte. Die Idee des urkirchlichen Lebensmodells verlangte das
gemeinschaftliche Leben von Männern und Frauen. Das alte Ideal der Doppel-
klöster war zwar nie völlig in Vergessenheit geraten, aber jetzt wurde es zu ei-
nem festen Bestandteil der neuen Ordnung. Das ist deshalb so bemerkenswert,
weil gleichzeitig durch den Versuch, den Zölibat im Klerus durchzusetzen, eine
Verteufelungskampagne gegen die Frauen in Gang kam. Die Priester sollten sich
von ihren Frauen trennen, daher musste ihnen die Sündhaftigkeit der Frau dras-
tisch vor Augen gestellt werden. Ein Reflex dieses Diskurses hat sich in einem
Traktat aus der Zeit um 1100 niedergeschlagen. Der Mönch Gottschalk von
Aachen im Kloster Klingenmünster in der Südpfalz notierte, man habe die Frage
an ihn gerichtet, ob Frauen wirklich nur für ihre obere Hälfte, nicht aber für die
untere Hälfte getauft werden können. Diese Überlegungen waren damals offen-
sichtlich im Gange. Gottschalk hegte aber Zweifel an dieser Auffassung. Wenn
dies so wäre, so führte er aus, würde jede Frau bei ihrem Tod in zwei Hälften
geteilt. Eine fahre in den Himmel auf, die andere hinab in die Hölle, und beim
jüngsten Tag würde dies zu erheblichen Problemen führen. Aber dennoch:
Zweifel konnten entstehen. Doch das Ideal der Urkirche hielt einen Ausweg
 
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