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Maul, Stefan M.; Maul, Stefan M. [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Keilschrifttexte aus Assur literarischen Inhalts (Band 10, Teilband 1): Einleitung, Katalog und Textbearbeitungen — Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.57036#0015
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2

Bannlösung (nam-erim-bür-ru-da)

von eurozentristischen Erkenntnisbarrieren - die in den hier
vorgestellten Texten liegenden Einsichten zu achten beginnt.
1. Der Forschungsstand
Im Juni des Jahres 1908 machte der Archäologe Walter Andrae
einen sensationellen Fund. Dreihundert Meter südlich des großen
Vorhofs des Assur-Tempels war er in einem der Suchgräben, mit
denen man das gesamte Stadtgebiet von Assur durchzogen hatte,
auf die Reste eines Wohnhauses gestoßen, das vermutlich bei
der Einnahme der Stadt im ausgehenden 7. Jh. v. Chr. in einer
Feuersbrunst vernichtet worden war. Unter dem Schutt des
eingestürzten Gebäudes lagen Hunderte zumeist zerbrochene
große und kleine Tontafeln von ganz unterschiedlichem Format
(Abb. I).2 Es waren die Überbleibsel einer bis heute einzigartig
gebliebenen Sammlung gelehrter Texte, die assyrische Heiler3
in ihrem Haus angelegt und in den Jahrzehnten vor dem
Untergang ihrer Stadt ständig erweitert hatten. Vor nunmehr
110 Jahren waren in dem von den Ausgräbern schon bald
■’Haus des Beschwörungspriesters"4 genannten Gebäude jene
Schriften wieder ans Tageslicht gekommen, die die Heiler
dereinst zur Ausübung ihres Berufes benötigten und für Lehr-
und Studienzwecke verwendet hatten.

2 Zu dem sog. Haus des Beschwörungspriesters und der dort entdeckten
Tontafelsammlung siehe O. Pedersen. ALA 2. 41-76 und S. M. Maul.
Assur-Forschungen. 189-228 jeweils mit weiterführender Bibliographie.
P. Miglus hat den archäologischen Befund in WVDOG 93. 236-241 und
den zugehörigen Plänen 41 und 132 ausführlich vorgestellt.
3 In der assyriologischen Fachliterahir wird der (w)üsrpu(m) genannte Be-
rufsstand häufig mit dem Wort “Beschwörungspriester ' (englisch: “incan-
tation priest"; französisch jedoch zumeist: “exorciste”) übersetzt. Diese
Wiedergabe des akkadischen Wortes (w)ööpu(m) (und des nahezu bedeu-
tungsgleichen Wortes masmassu) ist irreführend, denn ein (w)äsipu(m)
war. selbst wenn er im Auftrag eines Tempels agierte, kein Priester. Hier
und im folgenden wird daher der Begriff “Beschwörungspriester“ konse-
quent gemieden. Die Übersetzung “Beschwörer " hingegen entspricht der
Etymologie des akkadischen Wortes (w)öSpu(m) wohl recht genau und be-
sitzt schon deshalb ihre Berechtigung. Dem (w)äsipu(m) schrieb man zu.
im Verlauf eines langen Studiums auch die Macht erworben zu haben, mit
dem den Menschen offenbarten Gotteswort das Böse bannen und das Gute
herbeirufen zu können. Selbst wenn man der Ety mologie der Berufsbe-
zeichnung (w)äsipu(m) mit der Übersetzung “Beschwörer” wohl gerecht
wird, ist das im alten Mesopotamien äsipütu oder masmassütu genann-
te Fachgebiet der “Beschwörer " nur unzulänglich mit der im Deutschen
üblichen Bezeichnung “Beschwörungskunst' charakterisiert, äsipütu bzw.
masmassütu kann im weitesten Sinne als Heilkunst bezeichnet werden, die
alle denkbaren Techniken der Unheilsbeseitigung und der Heilsbewahrung
umfaßt. Sie reichen von Bittgebet und Exorzismus bis hin zu Arzneimittel-
herstellung medikamentöser Behandlung eines Patienten. Im dem in Assur
entdeckten sog. Haus des Beschwörungspriesters wurde eine beachtliche
Zahl von Tontafeln mit Therapiebeschreibungen und Anweisungen zur
Herstellung von Medikamenten entdeckt, die zur Heilung oder Verhütung
von zahlreichen Krankheiten und Leiden gedacht waren. Sie dokumentie-
ren ein wichtiges Arbeitsgebiet der äsipu bzw. masmassu genannten as-
syrischen Gelehrten. Die "Unheilsbeseitiger" und "Heilsbewahrer" waren
außerdem mit der Aufgabe betraut, ihren Patienten dauerhaften göttlichen
Schutz zu sichern und Übel. Unglück und Schwierigkeiten jeglicher Art
von ihnen femzuhalten. In ihrer Tafelsammlung finden sich dementspre-
chend auch Gebete und Anlertungen. um göttlichen Zorn zu besänftigen
sowie Anweisungen für Heilverfahren, die in Aussicht stellten, psychi-
sche. soziale und ökonomische Probleme aus der Welt zu schaffen. Zur
Wiedergabe der Berufsbezeichnung (w)äsipu(m) bzw. masmassu wird des-
halb hier in der Regel statt “Beschwörer" der neutralere Begriff “Heiler"
verwendet.


Abb. 1: Ungebrannte Tontafeln in situ im Schutt des Hauses
der assyrischen Heiler (Grabungsphoto S 3866 vom Juni 1908)

Mit dem Untergang des Assyrerreichs und der vollständigen
Zerstörung der Stadt Assur schien auch das in den Manuskripten
niedergelegte, über viele Jahrhunderte gewachsene heilkundliche
Wissen unwiderruflich verloren. Doch gebrannte und
luftgetrocknete Tontafeln bleiben - anders als Dokumente, die
auf vergänglichem organischem Material wie Papyrus. Holz oder
Leder geschrieben sind - selbst in feuchtem Erdreich dauerhaft
erhalten. Nur aus diesem Grund ist es möglich, das verschüttete,
gänzlich vergessene Wissen der gelehrten assyrischen Heiler
nach mehr als zweieinhalb Jahrtausenden wiederzugewinnen
und erneut zu studieren.
Einen wichtigen Schlüssel zu dem für die Wissenschaftsge-
schichte so bedeutsamen Schrifttum bildet ein unter den altorien-
talischen Heilem jener Zeit weitverbreitetes Verzeichnis, das mit
folgender Überschrift versehen ist: ""Anfangszeilen der Werke
der Heilkunst (jskar äsipütilmasmassüti). die für den Wissens-
erwerb und das Studium maßgebend sind.”5 In dem sog. Haus
des Beschwörungspriesters fanden sich sogar zwei Exemplare
von dem immer wieder abgeschriebenen Curriculum, in dem mit
der Nennung der als maßgeblich erachteten Schriften auch die
grandlegenden Wissens- und Tätigkeitsgebiete der altorientali-
schen Heiler abgesteckt sind.6
Neben vielem anderem ist dort ein Werk mit dem sumerischen
Titel nam-erim-bür-ru-da genannt. Der assyrische Heiler
Kisir-Nabü. der den im ‘Haus des Beschwörangspriesters'
5 E. Ebeling. KAR 44 (VAT 8275 = Ass 13955 er) und Duplikate. Vs. 1.
Die jüngsten Editionen des sog. Leitfadens der Beschwörungskunst legten
M. J. Geller (Fs. Lambert. 242-254) und C. Jean (SAAS 17. 62-82) vor.
Bislang wurden sieben Textvertreter bekannt, die allesamt im ersten
vorchristlichen Jahrtausend niedergeschrieben wurden und aus Assur.
Ninive. Sippar. Babylon und Uruk stammen.

4

W. Andrae. MDOG 44 (1910). 35.

6

KAR 44 und A 366 (Fundnummer: Ass 13955 bk; unveröffentlicht).
 
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