Einleitung
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gefundenen TextvertreterKAR 44 (VAT 8275 = Ass 13955 er; siehe
Abb. 2) im letzten Drittel des siebten vorchristlichen Jahrhunderts
angefertigt und signiert hatte, fügte dem sumerischen Titel in
kleiner Schrift eine Glosse hinzu, die die zugehörige akkadische
Übersetzung liefert: [ma-mi-t]a a-na pa-sä-ri. "Um einen Bann
zu lösen’.7
Abb. 2: Das Curriculum der Heiler: VAT 8275 (KAR 44). Vs.
(Photo der Assur-Forschungsstelle. Heidelberg)
Es liegt auf der Hand, daß unter dieser Bezeichnung
Unterweisungen zur Lösung eines schwerwiegenden. Unheil
bringenden Übels überliefert wurden. Die Nennung in dem
Curriculum der Heiler läßt keinen Zweifel daran, daß die
“Bannlösung” (nam-erim-bür-ru-da) - ebenso wie die in dem
Verzeichnis unmittelbar zuvor genannten Verfahren zur Abwehr
von Schadenzauber (usH-bür-ru-da)8 - zum Kembereich
altorientalischer Heilkunst (äsipütu bzw. masmassütu9) zählte.
Dem Eintrag in dem Verzeichnis der Schriften der Heilkunst
ist allerdings nicht zu entnehmen, ob nam-erim-bür-ru-da der
Name eines ganz bestimmten Heilverfahrens war. das in einem
einzigen, möglicherweise aus einer ganzen Folge von Tontafeln
bestehenden keilschriftlichen Traktat beschrieben worden war.
oder ob der sumerische Begriff als eine Art Gattungsbezeichnung
verwendet wurde, mit der man voneinander unabhängige
Heilanweisungen oder Rezitationen ganz unterschiedlicher
Art betitelte, wenn sie nur dem Ziel dienten, einen Menschen
von einem auf ihm lastenden Bann zu befreien. Viele weitere
Einträge in dem Curriculum der Heiler lassen erkennen, daß
grundsätzlich beide Möglichkeiten in Betracht kommen.10
Die Forschungsergebnisse, die Heinrich Zimmern in der 1915
erschienenen ersten Edition des Textes vorlegte.11 machten das
letztere wahrscheinlich. Zimmern konnte nämlich aufzeigen, daß
neben einzelnen Tafeln, die den Wortlaut von sumerischen und
akkadischen Rezitationen enthalten.12 auch eine sumerische
7 KAR 44, Vs. 12 (vgl. auch die folgende Zeile). Die akkadische Glosse fehlt
in den Duplikaten. In der Korrespondenz der spätassyrischen Könige wurde
das Bannlösungsverfahren auch als “mämTti u pasäri" (S. Parpola, SAA 10,
308,TextNr. 371, Rs. 9) und als “samärmtipasäru" bezeichnet (ebd., 163,
Text Nr. 201, Rs. 5’). In dem spätbabylonischen Text BRM 4, Nr. 20, 70 ist
nam-erim-bür-ru-da mit akkadischem mämitupasäru geglichen.
8 Zu dieser Textgruppe siehe T. Abusch, D. Schwemer, CMAwR 1 und
CMAwR 2.
9 Siehe oben Anm. 3.
10 Siehe dazu H. Zimmern, ZA 30, 204-205.
11 H. Zimmern, Ein Leitfaden der Beschwörungskunst, ZA 30, 204-229.
12 In ZA 30. 219 nennt H. Zimmern die Tafeln Rm 2. 159 (hier Text Nr. 45)
und das aus Ninive stammende Tafelfragment K 885, das mittlerweile
mit dem Bruchstück K 4538 zusammengefügt wurde (siehe T. Abusch.
D. Schwemer. CMAwR 2. 92-96, Text 7.22).
Beschwörung mit der Unterschrift ka-inim-ma nam-
erim-bür-ru-da-ke413 versehen worden war. obgleich sie
zu einer aus mehreren Tafeln bestehenden Schrift gehört, die
die Heiler Surpu (“Verbrennung”) nannten.14 Das Anliegen
der Bannlösung war dort ganz offenkundig weiterreichenden
Heilzwecken unterstellt. Da keinerlei Hinweise darauf zu finden
waren, daß die bekannt gewordenen, als ka-inim-ma nam-
erim-bür-ru-da-ke4 bezeichneten Texte - in eine bestimmten
Reihenfolge gebracht - gemeinsam die Beschreibung einer
einzigen Therapie bildeten, lag es nahe anzunehmen, daß
es eine eigenständige, unter der Bezeichnung nam-erim-
bür-ru-da überlieferte Heilbehandlung nie gegeben hatte,
sondern nur jeweils alleinstehende Texte, deren Gemeinsamkeit
lediglich darin lag. daß man sie dem therapeutischen Belang der
Bannlösung zuordnete.
Diese Einschätzung hat sich schnell durchgesetzt und wird
aus gutem Grund bis heute unwidersprochen als Gewißheit
betrachtet.15 denn die Beschreibung eines als nam-erim-bür-
ru-da bezeichneten Heilverfahrens wurde weder aus dem in
Assur entdeckten Tontafelbestand bekannt, noch ließ sich ein
solcher Text in irgendeinem anderen Tafelftmd nachweisen.
Selbst unter den mittlerweile recht gut erforschten Tontafeln, die
aus der sehr umfangreichen Tontafelbibliothek stammen, die der
assyrische König Assurbanipal um die Mitte des 7. Jh. v. Chr.
in seinem Palast in Ninive hatte aufbauen lassen, um darin das
gesamte Schrifttum seiner Zeit zu versammeln, sucht man einen
entsprechenden Text vergeblich.
Während in den Jahrzehnten nach ihrer Entdeckung die
gut erhaltenen Manuskripte der Heiler aus Assur nach und
nach bekanntgemacht wurden,16 blieb die große Zahl der stark
beschädigten, oft in kleine Fragmente zersplitterten Tafeln für
lange Zeit unbeachtet. Außerdem hatte man sich bis in die 80er
Jahre des 20. Jahrhunderts hinein fast ausschließlich für die
Texte und ihre Rekonstruktion interessiert, aber das Augenmerk
nur sehr selten auf das Ensemble gerichtet, aus dem der jeweilige
Text stammte. Erst der schwedische Altorientalist Olof Pedersen
stellte sich der Aufgabe herauszufinden, welche der Tontafeln
aus Assur. die in das Vorderasiatische Museums zu Berlin und
die Staatlichen Museen zu Istanbul gelangt waren, zu dem
Fund gehört hatten, den man in dem Haus der Heiler gemacht
hatte. Mit Hilfe der Grabungstagebücher Walter Andraes und
der umfangreichen Photodokumentation der Ausgräber konnte
Pedersen in seinem 1985/86 erschienenen Buch Archives and
libraries in the city of Assur insgesamt 631 veröffentlichte und
unveröffentlichte Tontafeln und Tafelfragmente dem Fund aus
dem sog. Haus des Beschwörungspriesters zuordnen.17
13 Surpu, Tafel 5-6, 172: “Wortlaut einer Beschwörung, die dazu (dient),
einen Bann zu lösen ' (siehe E. Reiner. Surpu, 35).
14 Siehe H. Zimmern. ZA 30. 219 zu Z. 12.
15 Siehe z. B. J. Nougayrol. JCS 1. 329; E. Reiner. JNES 15. 130 und dies.,
Surpu, 55-56 zu Tafel 3. 3; E. E. Knudsen. Iraq 21. 45 und ders., Iraq
27. 160; M. J. Geller, in Fs. Borger. 127 und A. M. Kitz. Cursed are
you!. 321-348. Auch die Ausführungen von R. Borger in HKL 3. 86 (unter
“Lipsur-Litaneien“) und 87 (unter “nam-erim-bür-ru-da") und von C. Jean
(SAAS 17. 101) sind wohl in diesem Sinne zu verstehen.
16 Vor allem durch E. Ebeling und F. Köcher in: E. Ebeling. Keilschrifttexte
aus Assur religiösen Inhalts Bd. I. WVDOG 28. Leipzig (1915—)1919;
ders., Keilschrifttexte aus Assur religiösen Inhalts Bd. II. WVDOG 34.
Leipzig (1920—)1923; E. Ebeling. F. Köcher. Literarische Keilschrifttexte
aus Assur. Berlin 1953; F. Köcher. Die Babylonisch-assyrische Medizin in
Texten und Untersuchungen. Band I-VL Berlin 1963-1980 (BAM).
17 Siehe O. Pedersen. ALA 2. 41-76: N4. Private house with large library and
archive of a family of exorcists (hC/D7E8I).
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gefundenen TextvertreterKAR 44 (VAT 8275 = Ass 13955 er; siehe
Abb. 2) im letzten Drittel des siebten vorchristlichen Jahrhunderts
angefertigt und signiert hatte, fügte dem sumerischen Titel in
kleiner Schrift eine Glosse hinzu, die die zugehörige akkadische
Übersetzung liefert: [ma-mi-t]a a-na pa-sä-ri. "Um einen Bann
zu lösen’.7
Abb. 2: Das Curriculum der Heiler: VAT 8275 (KAR 44). Vs.
(Photo der Assur-Forschungsstelle. Heidelberg)
Es liegt auf der Hand, daß unter dieser Bezeichnung
Unterweisungen zur Lösung eines schwerwiegenden. Unheil
bringenden Übels überliefert wurden. Die Nennung in dem
Curriculum der Heiler läßt keinen Zweifel daran, daß die
“Bannlösung” (nam-erim-bür-ru-da) - ebenso wie die in dem
Verzeichnis unmittelbar zuvor genannten Verfahren zur Abwehr
von Schadenzauber (usH-bür-ru-da)8 - zum Kembereich
altorientalischer Heilkunst (äsipütu bzw. masmassütu9) zählte.
Dem Eintrag in dem Verzeichnis der Schriften der Heilkunst
ist allerdings nicht zu entnehmen, ob nam-erim-bür-ru-da der
Name eines ganz bestimmten Heilverfahrens war. das in einem
einzigen, möglicherweise aus einer ganzen Folge von Tontafeln
bestehenden keilschriftlichen Traktat beschrieben worden war.
oder ob der sumerische Begriff als eine Art Gattungsbezeichnung
verwendet wurde, mit der man voneinander unabhängige
Heilanweisungen oder Rezitationen ganz unterschiedlicher
Art betitelte, wenn sie nur dem Ziel dienten, einen Menschen
von einem auf ihm lastenden Bann zu befreien. Viele weitere
Einträge in dem Curriculum der Heiler lassen erkennen, daß
grundsätzlich beide Möglichkeiten in Betracht kommen.10
Die Forschungsergebnisse, die Heinrich Zimmern in der 1915
erschienenen ersten Edition des Textes vorlegte.11 machten das
letztere wahrscheinlich. Zimmern konnte nämlich aufzeigen, daß
neben einzelnen Tafeln, die den Wortlaut von sumerischen und
akkadischen Rezitationen enthalten.12 auch eine sumerische
7 KAR 44, Vs. 12 (vgl. auch die folgende Zeile). Die akkadische Glosse fehlt
in den Duplikaten. In der Korrespondenz der spätassyrischen Könige wurde
das Bannlösungsverfahren auch als “mämTti u pasäri" (S. Parpola, SAA 10,
308,TextNr. 371, Rs. 9) und als “samärmtipasäru" bezeichnet (ebd., 163,
Text Nr. 201, Rs. 5’). In dem spätbabylonischen Text BRM 4, Nr. 20, 70 ist
nam-erim-bür-ru-da mit akkadischem mämitupasäru geglichen.
8 Zu dieser Textgruppe siehe T. Abusch, D. Schwemer, CMAwR 1 und
CMAwR 2.
9 Siehe oben Anm. 3.
10 Siehe dazu H. Zimmern, ZA 30, 204-205.
11 H. Zimmern, Ein Leitfaden der Beschwörungskunst, ZA 30, 204-229.
12 In ZA 30. 219 nennt H. Zimmern die Tafeln Rm 2. 159 (hier Text Nr. 45)
und das aus Ninive stammende Tafelfragment K 885, das mittlerweile
mit dem Bruchstück K 4538 zusammengefügt wurde (siehe T. Abusch.
D. Schwemer. CMAwR 2. 92-96, Text 7.22).
Beschwörung mit der Unterschrift ka-inim-ma nam-
erim-bür-ru-da-ke413 versehen worden war. obgleich sie
zu einer aus mehreren Tafeln bestehenden Schrift gehört, die
die Heiler Surpu (“Verbrennung”) nannten.14 Das Anliegen
der Bannlösung war dort ganz offenkundig weiterreichenden
Heilzwecken unterstellt. Da keinerlei Hinweise darauf zu finden
waren, daß die bekannt gewordenen, als ka-inim-ma nam-
erim-bür-ru-da-ke4 bezeichneten Texte - in eine bestimmten
Reihenfolge gebracht - gemeinsam die Beschreibung einer
einzigen Therapie bildeten, lag es nahe anzunehmen, daß
es eine eigenständige, unter der Bezeichnung nam-erim-
bür-ru-da überlieferte Heilbehandlung nie gegeben hatte,
sondern nur jeweils alleinstehende Texte, deren Gemeinsamkeit
lediglich darin lag. daß man sie dem therapeutischen Belang der
Bannlösung zuordnete.
Diese Einschätzung hat sich schnell durchgesetzt und wird
aus gutem Grund bis heute unwidersprochen als Gewißheit
betrachtet.15 denn die Beschreibung eines als nam-erim-bür-
ru-da bezeichneten Heilverfahrens wurde weder aus dem in
Assur entdeckten Tontafelbestand bekannt, noch ließ sich ein
solcher Text in irgendeinem anderen Tafelftmd nachweisen.
Selbst unter den mittlerweile recht gut erforschten Tontafeln, die
aus der sehr umfangreichen Tontafelbibliothek stammen, die der
assyrische König Assurbanipal um die Mitte des 7. Jh. v. Chr.
in seinem Palast in Ninive hatte aufbauen lassen, um darin das
gesamte Schrifttum seiner Zeit zu versammeln, sucht man einen
entsprechenden Text vergeblich.
Während in den Jahrzehnten nach ihrer Entdeckung die
gut erhaltenen Manuskripte der Heiler aus Assur nach und
nach bekanntgemacht wurden,16 blieb die große Zahl der stark
beschädigten, oft in kleine Fragmente zersplitterten Tafeln für
lange Zeit unbeachtet. Außerdem hatte man sich bis in die 80er
Jahre des 20. Jahrhunderts hinein fast ausschließlich für die
Texte und ihre Rekonstruktion interessiert, aber das Augenmerk
nur sehr selten auf das Ensemble gerichtet, aus dem der jeweilige
Text stammte. Erst der schwedische Altorientalist Olof Pedersen
stellte sich der Aufgabe herauszufinden, welche der Tontafeln
aus Assur. die in das Vorderasiatische Museums zu Berlin und
die Staatlichen Museen zu Istanbul gelangt waren, zu dem
Fund gehört hatten, den man in dem Haus der Heiler gemacht
hatte. Mit Hilfe der Grabungstagebücher Walter Andraes und
der umfangreichen Photodokumentation der Ausgräber konnte
Pedersen in seinem 1985/86 erschienenen Buch Archives and
libraries in the city of Assur insgesamt 631 veröffentlichte und
unveröffentlichte Tontafeln und Tafelfragmente dem Fund aus
dem sog. Haus des Beschwörungspriesters zuordnen.17
13 Surpu, Tafel 5-6, 172: “Wortlaut einer Beschwörung, die dazu (dient),
einen Bann zu lösen ' (siehe E. Reiner. Surpu, 35).
14 Siehe H. Zimmern. ZA 30. 219 zu Z. 12.
15 Siehe z. B. J. Nougayrol. JCS 1. 329; E. Reiner. JNES 15. 130 und dies.,
Surpu, 55-56 zu Tafel 3. 3; E. E. Knudsen. Iraq 21. 45 und ders., Iraq
27. 160; M. J. Geller, in Fs. Borger. 127 und A. M. Kitz. Cursed are
you!. 321-348. Auch die Ausführungen von R. Borger in HKL 3. 86 (unter
“Lipsur-Litaneien“) und 87 (unter “nam-erim-bür-ru-da") und von C. Jean
(SAAS 17. 101) sind wohl in diesem Sinne zu verstehen.
16 Vor allem durch E. Ebeling und F. Köcher in: E. Ebeling. Keilschrifttexte
aus Assur religiösen Inhalts Bd. I. WVDOG 28. Leipzig (1915—)1919;
ders., Keilschrifttexte aus Assur religiösen Inhalts Bd. II. WVDOG 34.
Leipzig (1920—)1923; E. Ebeling. F. Köcher. Literarische Keilschrifttexte
aus Assur. Berlin 1953; F. Köcher. Die Babylonisch-assyrische Medizin in
Texten und Untersuchungen. Band I-VL Berlin 1963-1980 (BAM).
17 Siehe O. Pedersen. ALA 2. 41-76: N4. Private house with large library and
archive of a family of exorcists (hC/D7E8I).