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Maul, Stefan M.; Maul, Stefan M. [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Keilschrifttexte aus Assur literarischen Inhalts (Band 10, Teilband 1): Einleitung, Katalog und Textbearbeitungen — Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.57036#0018
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Einleitung

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eher von bestimmten Handlungen oder Heilmaßnahmen geprägt
zu sein scheint. Aus diesem Grund stehen in dem ‘Leitfaden’
die dicenda im Mittelpunkt. Schon aus Raumgründen werden
sie aber - anders als in anderen Überlieferungsformen - nie
vollständig, sondern nur mit ihren Anfangsworten zitiert.
Die Heiler hatten entsprechende weitgehend verbindliche
Konventionen entwickelt, so daß ein zu sprechender Text stets
mit dem gleichen normierten Incipit benannt wurde. Ein solches
Incipit transportierte darüber hinaus noch weitergehende, nicht
auf den ersten Blick erkennbare Informationen. Die mit ihren
Anfangsworten benannten, jeweils zu sprechenden Texte waren
nämlich stets mit einer ganz bestimmten Situation und in den
meisten Fällen auch mit ganz bestimmten Handlungen oder
Heilmaßnahmenverbunden. Untervoll ausgebildetenHeilem war
dieser Zusammenhang so selbstverständlich, daß die Nennung
eines Incipits ausreichte, um auf die mit der Rezitation zu
verbindenden Handlungen oder Heilmaßnahmen zu verweisen.
Man konnte daher die zugehörigen Handlungsanweisungen auf
ein Minimum beschränken oder sogar ganz auf sie verzichten.20
Rasch zeigte sich, daß manche der in dem ‘Leitfaden’ zur
Rezitation vorgeschriebenen Gebete und Beschwörungen be-
reits bekannt waren. Mehrere der von Erica Reiner im Jahr 1956
veröffentlichten Gebete - die sog. //jwwr-Litaneien, in denen die
Götter in langen zunächst eintönig erscheinenden Sequenzen
immer wieder ersucht wurden. "(Unheil) zu lösen” - erwiesen
sich als dicenda. die ihren Platz in der nam-erim-bür-ru-da
genannten Heilbehandlung hatten.21 Hierzu paßte, daß sie mit
der Unterschrift ka-inim-ma nam-erim-bür-ru-da-käm22
bzw. mit der Unterschrift nam-erim-bür-ru-da-käm23 ver-
sehenwaren. Auch die mit der Unterschrift ka-inim-ma nam-
erim-bür-ru-da-ke4 versehene sumerische Beschwörung,
die in der Surpii ("Verbrennung”) genannten Schrift überliefert
wurde, ist in dem neuentdeckten ‘Leitfaden’ zur Rezitation
vorgeschrieben.24 und gleiches erwies sich für andere seit lan-
gem veröffentlichte Texte, die dieselbe sumerische Unterschrift
trugen. Der ‘Leitfaden’ lieferte nun den Beweis dafür, daß diese
scheinbar voneinander unabhängigen Heilanweisungen und Re-
zitationen eben doch gemeins am ein großes Ganzes gebildet
hatten.
2.2. Weitere Schriften zur Bannlösung
Viele weitere in dem ‘Leitfaden’ genannte Incipits waren
indes unbekannt. Manche davon ließen sich auf den lange
unbeachtet gebliebenen Tafelscherben aus dem sog. Haus des
Beschwörungspriesters wiederentdecken. Eine systematische
Suche zeitigte Erfolg. So konnte aus veröffentlichten und
unveröffentlichten Tafelbruchstücken nicht nur der Verlauf des
Bannlösungsverfahrens in allen, weit über die Angaben des
‘Leitfadens’ hinausgehenden Einzelheiten rekonstruiert werden.

20 Hierzu siehe auch S. M. Maul. BaF 18. 170 und 203-216.
21 Siehe E. Reiner. JNES 15. 129-149 und unten die Texte Nr. 26-37.
Allerdings konnte kein Hinweis darauf gefunden werden, daß auch
die von E. Reiner als üpxwr-Litanei Typ II 2 klassifizierten Gebete
(K 2096 + K 13246; K 11631 und K 6308: siehe ebd.. 144-146) dem
Bannlösungsverfahren zuzuordnen sind. Auffälligerweise weist keiner der
drei Texhertreter das Rubrum ka-inim-ma nam-erim-bür-ru-da-
käm auf.
22 Text Nr. 27-33. 122 und Text Nr. 34-37. 91 (dort: ka-inim-ma nam-
erim-bür-da).
23 Text Nr. 16-26, 7”.
24 Siehe Text Nr. 1-2. 10" und den zugehörigen Kommentar.

sondern auch nahezu das gesamte hierher gehörige Set von
Gebeten und Beschwörungen. Im Lauf von Jahren gelang es.
mithilfe von insgesamt 29 neuen Textzusammenschlüssen aus
einzelnen wenig aussagekräftigen Scherben wieder mehr oder
minder vollständige Tafeln aufzubauen und so die Schriften der
Heiler, die dem Bannlösungsverfahren gewidmet waren, nahezu
vollständig wiedererstehen zu lassen.
Von den 81 hier präsentierten Textzeugen stammen 26
aus dem Tafelbestand, der in Assur in dem Haus der Heiler
entdeckt worden war.25 Nur für einen einzigen Text läßt sich
die Herkunft aus dem Assur-Tempel nachweisen.26 Hinzu
kommen 20 Textvertreter aus Assur. die in neuassyrischer Zeit
geschrieben wurden und an Fundstellen zutage kamen, die sich
nicht mehr ermitteln lassen.27 sowie drei weitere aus der späten
mittelassyrischen Epoche.28 Fast alle übrigen Manuskripte,
die Bannlösungsverfahren dokumentieren, kommen aus den
assyrischen Städten Ninive.29 Kalhu30 und Huzinna31 sowie aus
nicht mehr bestimmbaren Orten im assyrischen Kulturraum.32
Mit zwei neubabylonischen Tafeln aus Sippar33. einer weiteren
aus Babylon34 und einer mittelbabylonischen Tafel aus Nippur35
lassen sich derzeit nur sehr wenige zugehörige Textzeugen
nachweisen, die außerhalb Assyriens geschrieben wurden.
Gleichwohl wäre es voreilig und letztlich falsch, die nam-
erim-bür-ru-da genannte Heilbehandlung als ein genuin
assyrisches Verfahren zu betrachten. Schon die Nennung in
dem Curriculum der Heiler, das ohne Zweifel babylonischen
Ursprungs ist. spricht dagegen. Ein weiteres Argument dafür,
daß das Bannlösungsverfahren schon früh in Babylonien
praktiziert wurde, mag man darin erkennen, daß bereits in der
altbabylonischen Zeit dicenda überliefert wurden, die mit der
Unterschrift ka-inim-ma tu-ra x x x [ ] / [ ] nam-
erim-bür-da-käm versehen sind.36
Verfahren der Bannlösung dürften daher bereits in
altbabylonischer Zeit existiert haben und schon damals mit
dem sumerischen Begriff nam-erim-bür-ru-da bezeichnet
worden sein. Somit ist es mehr als wahrscheinlich, daß die
im ersten vorchristlichen Jahrtausend im Rahmen der Surpii
genannten Heilbehandlungen überlieferten dicenda. die eine
Bannlösung bewirken sollten, dem nam-erim-bür-ru-da
geheißenen Bannlösungsverfahren entlehnt wurden und nicht
etwa umgekehrt.

25 Die Texte Nr. 1-6. 13-15. 17-18. 32. 35. 43. 44. 64. 68, 71 und 73-80.
26 Text Nr. 66.
27 Texte Nr. 11. 16. 19. 22. 23-26. 41. 47. 54. 56, 58. 59. 60. 62. 63. 65. 67.
und 72. Einen frühneuassyrischen Duktus weisen die Texte Nr. 41. 47. 54.
59. 62 und 63 auf.
28 Die Texte Nr. 7 (spätmittelassyrisch oder frühneuassyrisch, die Fundstelle
ist unbekannt). 46 (aus der Beschwörerbibliothek aus dem Alten Palast)
und 57 (die Fundstelle ist unbekannt).
29 Die Texte Nr. 8. 9. 12. 21. 27-31. 33. 37. 45. 48-52. 55 und 69.
30 Die Texte Nr. 10. 34. 39. 40 und 42.
31 Text Nr. 20.
32 Texte Nr. 36 und 70 (letzterer möglicherweise aus Assur).
33 Die Texte Nr. 38 und 61.
34 Text Nr. 53.
35 Text Nr. 81.
36 CT 4. PI. 3 (Bu 1888-5-12. 6). 35-36; siehe den Kommentar zu Text
Nr. 1-2. Lücke (vor Z. 1”). Zu weiteren bereits in altbabylonischer Zeit
bezeugten dicenda. die in späterer Zeit in das Bannlösungsverfahren
eingebunden waren, siehe die Kommentare zu Text Nr. 4-10. 106 und Text
Nr. 1-2. 9" sowie den einleitenden Kommentar zu Text Nr. 81.
 
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