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Maul, Stefan M.; Maul, Stefan M. [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Keilschrifttexte aus Assur literarischen Inhalts (Band 10, Teilband 1): Einleitung, Katalog und Textbearbeitungen — Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.57036#0034
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Einleitung

21

Bann verbundene Todesurteil abzuwenden. Das in diesen Fäl-
len offenbar als unabänderlich betrachtete Urteil sollte vielmehr
vollstreckt werden, wenngleich nicht an dem Patienten selbst,
sondern an einem eigens für diesen Zweck bereitgestellten Sub-
stitut. In dieser Variante des Bannlösungsverfahrens erschuf der
Heiler neben dem tönernen Ebenbild des personifizierten Banns
auch ein Figürchen seines Patienten. Das vielleicht sogar in ei-
ner einzigen Figur dargestellte Paar275 sollte gemeinsam in den
Tod gehen. Hierfür mußte zunächst die Wesenseinheit von dem
Patienten und seinem Substitut hergestellt werden. Auch wenn
die hier vorgelegten Texte darüber keinerlei Auskünfte vermit-
teln. wissen wir. daß dies durch Berühren oder das Beigeben von
Haar oder anderen den Patienten repräsentierenden Dingen er-
reicht werden konnte.276 Im Verlauf des therapeutischen Gesche-
hens mußte sich der Patient dann von seinem Substitut trennen
und sich so von dem Teil seiner Persönlichkeit, der mit Schuld.
Unglück und Krankheit verbunden war. lösen. In dem Bannlö-
sungsverfahren. das aus Text Nr. 14-15 bekannt ist. geschah dies
wiederum mit den Riten, die eine (Ehe)scheidung besiegelten.277
Der von einem Bann Verfolgte hatte sich zuvor über dem Abbild,
das ihn selbst darstellte, zu waschen und so die ihm anhaftende,
von dem Bann ausgegangene pathogene Kraft, die man sich als
feinstoffliche Verunreinigung vorstellte, von sich zu nehmen und
mit dem schmutzigen Wasser auf sein Substitut zu übertragen.278
Jenseits der Narrative von Gerichtsverfahren. Recht und
Gerechtigkeit durchzieht die meisten Bannlösungstherapien auch
die Vorstellung von einem Mensch-Gott-Verhältnis, das allein von
Demut. Reue und Gnade gekennzeichnet ist. Dementsprechend
nehmen in den ausführlicheren Bannlösungsverfahren neben
Bitten und Gebeten Schuldbekenntnisse einen großen Raum
ein.279 Wie es scheint, hatte der Patient sie nicht allein vor den
Göttern, sondern auch vor Zeugen abzulegen, die sich in seinem
Haus aufhielten.280 Als Schuldtragender, der zu guter Letzt zum
rechten Weg zurückgefunden hatte, sollte er anderen so zum
warnenden Beispiel werden und gleichzeitig mit seiner Umkehr
die am Ende immer obsiegende göttliche Ordnungsmacht
rühmen. Die Götter, die in der Weitsicht der Heiler das Urteil,
einen Bann zu lösen, letztlich zu verantworten hatten, galt
es. angemessen mit Speis und Trank zu bewirten, um so ihr
Wohlwollen zu sichern.281 Das dabei nicht selten dargebrachte
blutige Opfer ist gewiß nicht nur als das Bereitstellen einer
Fleischmahlzeit zu verstehen. Vielmehr spiegelt es den Wunsch
des Opferspenders, dem Gott Leben für Leben zu geben und
damit das eigene Leben zu retten.282 Im Gegenzug sollten die
Götter Gnade walten lassen. In endlos langen Bittsequenzen,
den sog. Z/pV/r-Li tancicn, die der Patient oder aber der Heiler an
275 Siehe hierzu die Kommentare zu Text Nr. 3. 13 und 36-37 sowie zu Text
Nr. 48-51. 39-40.
276 Siehe hierzu beispielsweise G. Meier. ZA 45. 200. Z. 8-12.
277 Siehe Text Nr. 14-15. 11 und 18-19 mit den zugehörigen Kommentaren.
278 Siehe Text Nr. 1-2. 19"; Text Nr. 27-33. 77f. und 100-102; Text
Nr. 46-47. 50-53 sowie die zugehörigen Kommentare.
279 Siehe Text Nr. 4-10. 74; Text Nr. 16-26. 65-74; Text Nr. 45. 3ff.; Text
Nr. 48-51; Text Nr. 54. 3' und 9'f. Die Anweisung, in eigenen Worten
eine Art Beichte vor dem Sonnengott abzulegen, findet sich in K 2535 +
K 2598. 73 (siehe S. M. Maul. Fs. Freydank sowie ders.. BaF 18. 69 mit
Anm. 105).
280 Siehe Text Nr. 16-26. 66-68 und den Kommentar zu Z. 67.
281 Siehe Text Nr. 1-2. 10-11"; Text Nr. 3. 18-20; Text Nr. 4-10. l”-2”;
Text Nr. 12. 3^1; vgl. Text Nr. 14-15. 12; Text Nr. 16-26. l”-3” und Text
Nr. 38-39. 19”-22”.
282 Siehe den Kommentar zu Text Nr. 1-2. 11'.

dessen Statt zu sprechen hatte, rief man die Götter namentlich
an und ersuchte sie. den "Bann zu lösen".283 Auf diese Weise
sollte sichergestellt werden, daß die Bitte auch jene Gottheit
erreichte, die durch Fehlverhalten verärgert worden war. In den
aufwendigeren Bannlösungsverfahren versuchte man. in diesen
Litaneien nicht nur die möglicherweise unbekannt gebliebenen
Umstände von Meineid und Falschaussage zu erfassen. Auch
Zeit und Raum, in denen sich das Vergehen dereinst abgespielt
haben mochte, sollten genannt und um Lösung gebeten werden.
So richtete man die Bitte auch an Landschaften und Berge. Flüsse
und Gewässer und selbst an alle Monate und deren einzelne Tage.
In einem Fall sollte sie sogar in einer langen Litanei für jeden
einzelnen Körperteil des Menschen immer wieder wiederholt
werden. Bei der Rezitation dieser Litaneien hatte der Erkrankte
eine Mischung aus Opfermehl und verschiedenen Aromatika
auf einem Kohlebecken zu verbrennen.284 Die ausdrücklich
als "Mittel zu Lösung' (pisertu) bezeichnete Opfergabe sollte
bewirken, daß die Götter, aber auch die als beseelt gedachten
Größen von Zeit und Raum, "hertraten' und dem Bittsteller "das
Leben aussprachen'.285 Eine durch Meineid und Falschaussage
in Zeit und Raum verbliebene Umeinheit sollte so aus der Welt
genommen werden.
Ein letzter Handlungssträng der Therapie ist schließlich von
dem Gedanken getragen, daß die von dem Bann ausgegangene
pathogene Kraft gebrochen und deren stoffliche Grundlage
beseitigt werden müsse. Diese, so glaubten die altorientalischen
Heiler, haftete wie ein Gewand oder eine zweite Haut an dem
Körper eines unter einem Bann stehenden Menschen und war
durch Kontakt mit Tabuisiertem. Schmutz oder Ähnlichem an
den Leib des Betroffenen gelangt.286 Die in dem ‘Leitfaden’
beschriebene aufwendige Therapie sah vor. durch eine Art
Schälkur (peeling) die feinstofflich gedachten ‘Keime’ des
Banns von der Haut des Kranken zu lösen. Die massageartige
Behandlung, die gewiß nicht nur reinigend sondern auch
durchblutungsfördemd und damit belebend wirkte, wurde
mehrfach wiederholt und stets mit zwei Teigklumpen aus
verschiedenen Schrot- und Mehlarten vorgenommen. Der
Kranke konnte so gleichzeitig auf beiden Körperseiten frottiert
werden. Für die Behandlung verwendete man Teigsorten von
vermutlich zunehmend feiner Konsistenz und zum Abschluß
Batzen von Ton. der zuvor sorgfältig geschlämmt worden sein
dürfte.287 Eine entsprechende Behandlung, die mussuu genannt
wurde, gehörte auch außerhalb der Bannlösungsverfahren
zu dem therapeutischen Repertoire der Heiler.288 Die für die
Abreibungen verwendeten Teigklumpen galten als so stark
kontaminiert, daß man befürchtete, von ihnen könne eine erneute
Ansteckung ausgehen. Ihrer Beseitigung wurde daher große
Aufmerksamkeit gezollt.

283 Siehe Text Nr. 16-26; Text Nr. 27-33; Text Nr. 34-37; Text Nr. 38-39
und ferner Text Nr. 4-10. 12-33. Sehr enge Parallelen finden sich in der
Surpii genannten Heilbehandlung, namentlich in den Tafeln 2 und 3 (siehe
E. Reiner. Surpu. 13-24).
284 Weiteres hierzu findet sich im Kommentar zu Text Nr. 1-2. 17 -18'.
285 Text Nr. 27-33. 106-107.
286 Siehe dazu oben S. llf. und S. 15.
287 Text Nr. 1-2. 21-8"; Text Nr. 40-44 und Text Nr. 48-51. 71. Siehe
außerdem den Kommentar zu Text Nr. 1-2. 21'.
288 Siehe dazu B. Böck. Das Handbuch Mussu u und dies.. JNES 62. 1-16.
In Text Nr. 48-51. 68 findet sich die Anweisung, daß der Heiler vor der
Behandlung “seine Hände einer gründlichen Abreibung" unterziehen
möge. Dahinter steht wohl die Absicht zu verhindern, daß der Heiler
seinerseits Umeinheit auf seinen Patienten überträgt.
 
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