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Bannlösung (nam-erim-bür-ru-da)
rechtmäßig verurteilten Banns wurde in dem nun beschriebenen Geschehen vor dem Sonnen- und Richtergott
mit dem erkrankten Menschen in dem Ritus verehelicht, der als symbolischer Akt auch im Alltagsleben eine
Eheschließung rechtskräftig besiegelte: Das Gewand des Figürchens und das des Patienten wurden durch einen
Knoten miteinander verbunden (hierzu siehe J. J. Finkelstein. WdO 8. 236-240; M. Malul. BiOr 43. 20-36;
ders.. AOAT 221. 153-159 und 197-208; A. da Silva. BCSMS 26. 15-21 sowie unten Text Nr. 3. 72-76 und
Text Nr. 4. 5”—12”). Das regelrechte Heiraten des Banns zwang den altorientalischen Patienten, zunächst das
Urteil der Götter, ihn unter einen Bann zu stellen, zur Kenntnis zu nehmen und anzuerkennen. Freilich vermochte
in der zugrunde liegenden Vorstellung der an den Patienten gebundene, in dem Figürchen gebannte Bann nun
nicht mehr, dem betroffenen Menschen erneut Schaden zuzufügen. Aber gleichwohl sollte dem Kranken durch
diese ihn selbst einbeziehende dramatische Inszenierung vor Augen geführt werden, daß eine schwere Strafe
auf ihm lastete, die es samt der daraus resultierenden Beschwerden erst anzunehmen galt, bevor der Segen
der "Bannlösung” seine Wirkung entfalten konnte. Indem der Heiler den eigentlich unauflösbaren Knoten
der Gewänder zerschnitt, vollzog er - so wie auch im zivilen Leben - die Scheidung. Der Erkrankte und der
ihn bedrängende Bann galten nun als endgültig voneinander getrennt. Es bedarf kaum der Phantasie, um sich
vorzustellen, daß dieser geradezu sakramentale Akt für den altorientalischen Menschen mit einem starken Gefühl
der Befreiung verbunden war. das die Selbstheilungskräfte wohl nicht unerheblich aktivierte.
Zu ähnlichen Handlungsanweisungen, welche die rituelle Eheschließung mit und die Scheidung von einem
Figürchen, das einen Dämon oder eine schädigende Kraft verkörpert, beschreiben, siehe M. Stol. Epilepsy.
99-102; S. M. Maul. BaF 18. 75; D. Schwemer. Akkadische Rituale aus Hattusa. 60; W. Färber. ZA 91. 253-263;
ders.. in: H. F. J. Horstmanshoff. M. Stol (Hrsg.). Magie and rationality in Ancient Near Eastem and Graeco-
Roman medicine. 117-132; T. Abusch. D. Schwemer. CMAwR 1. 141. Z. 23’ff.; vgl. ferner unten Text Nr. 14. 11
mit dem zugehörigen Kommentar sowie VAT 14133 (W. Meinhold. KAL 7. Text Nr. 38).
In Textvertreter A des ‘Leitfadens’ war die Herstellung eines weiblichen Figürchens vorgesehen, das den Bann
und seine schädigende Wirkung verkörperte. Einem solchen Ritualaufbau zufolge wurde an dieser Stelle wohl
der Gewandsaum des Patienten mit dem des Figürchens verbunden und anschließend der Knoten zerschnitten.
Dem zweiten Textvertreter zufolge sollten als ‘‘Abbild des Banns” ein männliches und ein weibliches Figürchen
hergestellt werden (dazu siehe oben den Kommentar zu Z. 3’). Im diesem zweiten Fall verband man vielleicht
nicht nur die beiden Figürchen durch einen Gewandknoten miteinander, sondern auch den Erkrankten und das
männliche Figürchen, das an seine Stelle treten und nach dem Zerschneiden des verbindenden Knotens als sein
kranker Anteil von ihm abgespalten werden sollte (dazu siehe den Kommentar zu Text Nr. 14-15. 11).
Das inZ. 20” des ‘Leitfadens’zitierte Gebet an den Sonnengott ist sowohl aus Text Nr. 3. 72-76 als auch aus Text
Nr. 4-10. 6”-12” bekannt. Das Samas-Epitheton "Herr des Rechts und der Gerechtigkeit”, das im Gebetsincipit
in Textvertreter A des ‘Leitfadens’ fehlt, findet sich sowohl in Text Nr. 3. 72 als auch in Text Nr. 4-10. 6”. Das
Fehlen des Epithetons in Textvertreter A des ‘Leitfadens’ ist daher vielleicht eher als versehentliche Auslassung
denn als Variante zu beurteilen. In dem an den Sonnen- und Richtergott gerichteten Gebet, in dem Samas als
Richter und Zeuge für den Akt der Eheschließung und der Scheidung angerufen wird, ist einerseits auf das
schädigende Wirken des Banns, aber andererseits auch darauf verwiesen, daß der Bann rechtmäßig entschädigt
und gebührend behandelt worden sei. Dies galt es zu betonen, um deutlich zu machen, daß die vor dem Gott
vollzogene Scheidung berechtigt und letztlich für alle Parteien gerecht durchgeführt wurde. Das Gebet endet
mit der Bitte, daß der Richtergott kein neues Ungemach entstehen lassen möge, weil man bewirkt habe, "daß
Gattinnen Gatten verlassen”. Diese Bitte wirft ein interessantes Licht auf die im Alten Orient herrschenden
Moralvorstellungen.
Während der ‘Leitfaden’ die dreimalige Rezitation des Gebetes vorsieht, schreibt Text Nr. 4-10. 13” vor. das
Gebet siebenmal zu wiederholen.
22”-23” Diese letzte Phase der Therapie, an der der Patient selbst beteiligt war. galt der abschließenden Reinigung
des Erkrankten. Sein Gewand, das noch kurz zuvor mit dem Gewand des Bann-Figürchens verbunden war.
hatte er abzustreifen und wohl durch ein neues, strahlend weißes zu ersetzen (hierzu siehe z. B. E. Ebeling.
ZA 51. 167-179 und grundlegend S. M. Maul. BaF 18. 72 und 96). Anschließend wurde der Patient mit einem
noch lebenden Ziegenbock abgerieben, der alles verbliebene Unreine und Pathogene in sich aufnehmen sollte
(hierzu siehe auch Text Nr. 68. 3”). Nach dieser Behandlung wurde das oft mashulduppü ("Ziegenbock, der
das Böse wegstößt”) genannte, kontaminierte Tier aus dem Lebensraum der Menschen entfernt und getötet
(siehe hierzu A. Cavigneaux. Fs. Boehmer 53-67 und z. B. J. Scurlock. Magico-medical means. 620f.. Text
Nr. 303; M. J. Geller. SAACT 5. 160-162. udug-hul Tafel 12. 59-98 sowie ferner R. Strauß. Reinigungsrituale.
130-133 und S. M. Maul. BaF 18. 98 und 124). Zu den abschließenden Reinigungsriten. die mit Räuchergefäß.
Fackel und Weihwasser vollzogen wurden siehe S. M. Maul. BaF 18. 94f. Sumerische nam-erim-bür-ru-da-
Beschwörungen. die beim Anzünden der Fackel und beim Reinigen des Patienten gesprochen werden sollten,
sind aus der in Ninive gefundenen Tafel bekannt, die E. Reiner in Surpu. 52-53 ediert hat (K44 = IVR214Nr. 2.
Vs. 22-Rs. 30; siehe dazu auchE. Reiner. Surpu. 11. LKA 91. Vs. 5-6).
Die in Therapiebeschreibungen sehr häufig anzutreffende, an den Patienten gerichtete Anweisung "geradewegs
zu seinem Haus” zu gehen, ist bisweilen mit der Aufforderung verbunden, "nicht hinter sich zu blicken” und
auf anderem Wege nach Hause zu gehen, als er gekommen war (siehe z. B. S. M. Maul. BaF 18. 102. Z. 1. 209.
Bannlösung (nam-erim-bür-ru-da)
rechtmäßig verurteilten Banns wurde in dem nun beschriebenen Geschehen vor dem Sonnen- und Richtergott
mit dem erkrankten Menschen in dem Ritus verehelicht, der als symbolischer Akt auch im Alltagsleben eine
Eheschließung rechtskräftig besiegelte: Das Gewand des Figürchens und das des Patienten wurden durch einen
Knoten miteinander verbunden (hierzu siehe J. J. Finkelstein. WdO 8. 236-240; M. Malul. BiOr 43. 20-36;
ders.. AOAT 221. 153-159 und 197-208; A. da Silva. BCSMS 26. 15-21 sowie unten Text Nr. 3. 72-76 und
Text Nr. 4. 5”—12”). Das regelrechte Heiraten des Banns zwang den altorientalischen Patienten, zunächst das
Urteil der Götter, ihn unter einen Bann zu stellen, zur Kenntnis zu nehmen und anzuerkennen. Freilich vermochte
in der zugrunde liegenden Vorstellung der an den Patienten gebundene, in dem Figürchen gebannte Bann nun
nicht mehr, dem betroffenen Menschen erneut Schaden zuzufügen. Aber gleichwohl sollte dem Kranken durch
diese ihn selbst einbeziehende dramatische Inszenierung vor Augen geführt werden, daß eine schwere Strafe
auf ihm lastete, die es samt der daraus resultierenden Beschwerden erst anzunehmen galt, bevor der Segen
der "Bannlösung” seine Wirkung entfalten konnte. Indem der Heiler den eigentlich unauflösbaren Knoten
der Gewänder zerschnitt, vollzog er - so wie auch im zivilen Leben - die Scheidung. Der Erkrankte und der
ihn bedrängende Bann galten nun als endgültig voneinander getrennt. Es bedarf kaum der Phantasie, um sich
vorzustellen, daß dieser geradezu sakramentale Akt für den altorientalischen Menschen mit einem starken Gefühl
der Befreiung verbunden war. das die Selbstheilungskräfte wohl nicht unerheblich aktivierte.
Zu ähnlichen Handlungsanweisungen, welche die rituelle Eheschließung mit und die Scheidung von einem
Figürchen, das einen Dämon oder eine schädigende Kraft verkörpert, beschreiben, siehe M. Stol. Epilepsy.
99-102; S. M. Maul. BaF 18. 75; D. Schwemer. Akkadische Rituale aus Hattusa. 60; W. Färber. ZA 91. 253-263;
ders.. in: H. F. J. Horstmanshoff. M. Stol (Hrsg.). Magie and rationality in Ancient Near Eastem and Graeco-
Roman medicine. 117-132; T. Abusch. D. Schwemer. CMAwR 1. 141. Z. 23’ff.; vgl. ferner unten Text Nr. 14. 11
mit dem zugehörigen Kommentar sowie VAT 14133 (W. Meinhold. KAL 7. Text Nr. 38).
In Textvertreter A des ‘Leitfadens’ war die Herstellung eines weiblichen Figürchens vorgesehen, das den Bann
und seine schädigende Wirkung verkörperte. Einem solchen Ritualaufbau zufolge wurde an dieser Stelle wohl
der Gewandsaum des Patienten mit dem des Figürchens verbunden und anschließend der Knoten zerschnitten.
Dem zweiten Textvertreter zufolge sollten als ‘‘Abbild des Banns” ein männliches und ein weibliches Figürchen
hergestellt werden (dazu siehe oben den Kommentar zu Z. 3’). Im diesem zweiten Fall verband man vielleicht
nicht nur die beiden Figürchen durch einen Gewandknoten miteinander, sondern auch den Erkrankten und das
männliche Figürchen, das an seine Stelle treten und nach dem Zerschneiden des verbindenden Knotens als sein
kranker Anteil von ihm abgespalten werden sollte (dazu siehe den Kommentar zu Text Nr. 14-15. 11).
Das inZ. 20” des ‘Leitfadens’zitierte Gebet an den Sonnengott ist sowohl aus Text Nr. 3. 72-76 als auch aus Text
Nr. 4-10. 6”-12” bekannt. Das Samas-Epitheton "Herr des Rechts und der Gerechtigkeit”, das im Gebetsincipit
in Textvertreter A des ‘Leitfadens’ fehlt, findet sich sowohl in Text Nr. 3. 72 als auch in Text Nr. 4-10. 6”. Das
Fehlen des Epithetons in Textvertreter A des ‘Leitfadens’ ist daher vielleicht eher als versehentliche Auslassung
denn als Variante zu beurteilen. In dem an den Sonnen- und Richtergott gerichteten Gebet, in dem Samas als
Richter und Zeuge für den Akt der Eheschließung und der Scheidung angerufen wird, ist einerseits auf das
schädigende Wirken des Banns, aber andererseits auch darauf verwiesen, daß der Bann rechtmäßig entschädigt
und gebührend behandelt worden sei. Dies galt es zu betonen, um deutlich zu machen, daß die vor dem Gott
vollzogene Scheidung berechtigt und letztlich für alle Parteien gerecht durchgeführt wurde. Das Gebet endet
mit der Bitte, daß der Richtergott kein neues Ungemach entstehen lassen möge, weil man bewirkt habe, "daß
Gattinnen Gatten verlassen”. Diese Bitte wirft ein interessantes Licht auf die im Alten Orient herrschenden
Moralvorstellungen.
Während der ‘Leitfaden’ die dreimalige Rezitation des Gebetes vorsieht, schreibt Text Nr. 4-10. 13” vor. das
Gebet siebenmal zu wiederholen.
22”-23” Diese letzte Phase der Therapie, an der der Patient selbst beteiligt war. galt der abschließenden Reinigung
des Erkrankten. Sein Gewand, das noch kurz zuvor mit dem Gewand des Bann-Figürchens verbunden war.
hatte er abzustreifen und wohl durch ein neues, strahlend weißes zu ersetzen (hierzu siehe z. B. E. Ebeling.
ZA 51. 167-179 und grundlegend S. M. Maul. BaF 18. 72 und 96). Anschließend wurde der Patient mit einem
noch lebenden Ziegenbock abgerieben, der alles verbliebene Unreine und Pathogene in sich aufnehmen sollte
(hierzu siehe auch Text Nr. 68. 3”). Nach dieser Behandlung wurde das oft mashulduppü ("Ziegenbock, der
das Böse wegstößt”) genannte, kontaminierte Tier aus dem Lebensraum der Menschen entfernt und getötet
(siehe hierzu A. Cavigneaux. Fs. Boehmer 53-67 und z. B. J. Scurlock. Magico-medical means. 620f.. Text
Nr. 303; M. J. Geller. SAACT 5. 160-162. udug-hul Tafel 12. 59-98 sowie ferner R. Strauß. Reinigungsrituale.
130-133 und S. M. Maul. BaF 18. 98 und 124). Zu den abschließenden Reinigungsriten. die mit Räuchergefäß.
Fackel und Weihwasser vollzogen wurden siehe S. M. Maul. BaF 18. 94f. Sumerische nam-erim-bür-ru-da-
Beschwörungen. die beim Anzünden der Fackel und beim Reinigen des Patienten gesprochen werden sollten,
sind aus der in Ninive gefundenen Tafel bekannt, die E. Reiner in Surpu. 52-53 ediert hat (K44 = IVR214Nr. 2.
Vs. 22-Rs. 30; siehe dazu auchE. Reiner. Surpu. 11. LKA 91. Vs. 5-6).
Die in Therapiebeschreibungen sehr häufig anzutreffende, an den Patienten gerichtete Anweisung "geradewegs
zu seinem Haus” zu gehen, ist bisweilen mit der Aufforderung verbunden, "nicht hinter sich zu blicken” und
auf anderem Wege nach Hause zu gehen, als er gekommen war (siehe z. B. S. M. Maul. BaF 18. 102. Z. 1. 209.