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zeigen jedoch, daß konkrete Hexerei-Vorwürfe und -Anklagen in
aller Regel nur gegen Frauen erhoben wurden. Einen männlichen
kassäpu gibt es außerhalb der Ritualliteratur nicht; dagegen wer-
den Frauen verschiedentlich kispü „Hexereien“ zur Last gelegt,
ein Vorwurf, der meistens im Zuge von Konflikten in überschau-
baren sozialen Kontexten laut wird: in Familien, am Königshof
oder innerhalb einer Dorfgemeinschaft. 6 Insgesamt bleibt die
Zahl der Fälle, in denen juristisch gegen eine des Schadenzaubers
beschuldigte Frau vorgegangen wird, nach allem, was wir wissen,
gering. In aller Regel erwehrte man sich, wenn eine Erkrankung
oder Konstellationen im sozialen Umfeld den Verdacht einer
Behexung nahelegten, auf ritueller Ebene gegen seine Feinde,
auch wenn man recht klare Vorstellungen darüber zu haben
glaubte, wer einen selbst mit Schadenzauber bedrohte.

Was aber hatten die Frauen, denen kispü, Schadenzauber, zur
Last gelegt wurde, getan? Meistens wohl gar nichts; sie wurden
Opfer der sozialen Konflikte, innerhalb derer sie so an den Rand
gedrängt wurden, daß es zum Schadenzauberverdacht kam. Mehr
noch: Kein einziger Text mit einer Anweisung zur Durchführung
von kispü ist bekannt und es wird wohl auch nie ein Text dieser
Art gefunden werden. Wie bereits eingangs betont wurde, ist
kispü ein durchweg negativ konnotierter Begriff, der immer nur
auf andere, nie aber auf den Sprecher selbst bezogen wird.

Dieser Umstand hat gelegentlich zu dem Mißverständnis
geführt, die babylonisch-assyrische Welt habe keine aggressiven
Rituale gekannt, der Schadenzauber sei in diesen Kulturen eine
reine Angstphantasie, Hexer und Hexe letztlich genauso flüchtige
Gestalten wie Dämonen. 7 So einfach sind die Verhältnisse nun
leider nicht. Denn innerhalb des heilkundlichen Textcorpus sind
sehr wohl durchweg aggressiv stilisierte Ritualanweisungen
überkommen: Beschwörungsrituale zur Vernichtung des persön-
lichen Feindes, zur Lähmung des Gegners vor Gericht und bei
Hofe, zur Besänftigung des Zorns eines anderen gegenüber der
eigenen Person. Im weiteren Sinne gehören auch die
Anweisungen zum Liebeszauber hierher, die gleichfalls einen
anderen Menschen in eine bestimmte Haltung zwingen sollen.
All dies inspiriert und fördert die Angstvorstellungen des
Schadenzauberglaubens.

Doch ein weiteres kommt hinzu: Ein Grundprinzip der The-
rapie von Behexung besteht in einer gewissen Symmetrie. Be-
stand die Ursache eines Leidens laut Diagnose darin, daß jemand
mittels verunreinigter Speisen oder Getränke, mittels schaden-
zauberisch wirksamer Kräuter behext worden war, so genügte oft
ein Trank oder eine Salbe, um dem Übel beizukommen. War man
sich unsicher über die Methode, mittels derer der Schadenzauber

6 Von besonderer Bedeutung sind neben den schon länger bekannten -
jedoch nie umfassend zusammengestellten - Texten die von J.-M. Durand
in ARM 26/1-2 vorgelegten Texte aus der königlichen Korrespondenz von
Mari (Nr. 249, 253, 312, 314, jeweils mit Kommentar).

7 Vgl. F. Graf, Gottesnähe und Schadenzauber 157: „Die assyro-babylonische
Welt kennt also die schadende Defixion nur in der Theorie der Magie-
anklage, die griechisch-römische Welt hingegen praktiziert sie. ... In der
babylonischen Gesellschaft erdachte man sich eine Vielzahl von Ritualen
des Schadenzaubers, doch aus Angst vor Sanktionen übte man sie nicht aus.
... Als diese Ritualszenarien in eine Gesellschaft gebracht wurden, in der die
Sanktionen weit geringer waren ..., war die Versuchung, diese Riten
anzuwenden, äußerst groß ...“. Grafs Ausführungen zum babylonisch-
assyrischen Schadenzauberglauben berufen sich vor allem auf M.-L.
Thomsen, Zauberdiagnose.

durchgeführt worden war, oder suggerierte das Krankheitsbild,
daß gegen das Opfer ein todbringender Figurenzauber durchge-
führt worden war, reagierte man entsprechend - und zwar spie-
gelbildlich: So wie Hexer und Hexe Figuren des Patienten mani-
puliert, so wie sie die Götter gegen ihn aufgehetzt haben, so stellt
man nun Figuren her, die Hexer und Hexe im Ritual vertreten sol-
len. Diese werden vor Samas, dem Gott des Rechts, präsentiert,
man bringt in Gebet und Beschwörung die Anklage gegen die
Übeltäter vor und vernichtet dann deren Figuren.

Durch das Abwehrzauberritual wendet man den substanzhaft
vorgestellten Schadenzauber auf seine Verursacher zurück. Sie
werden durch das Miasma vemichtet, das sie selbst ursprünglich
in die Welt gesetzt haben, um ihr Opfer zu schädigen. Das Opfer
dagegen ist nun frei und triumphiert über seine Übeltäter. Diese
spiegelbildliche Stmktur macht die Deutung eines Abwehr-
zauberrituals letztlich auch zu einer Frage der Perspektive. Der
im Ritual beschuldigte Schadenzauberer würde sich selbst sicher-
lich als unschuldiges Opfer bezeichnen. Man darf deshalb davon
ausgehen, daß die Beteuerung, der Abwehrzauber werde öffent-
lich durchgeführt, die gelegentlich in den zugehörigen Gebeten
begegnet, oft nicht mehr als eine fromme Redefigur war. In
jedem Fall speisten und verstärkten die Rituale des Abwehr-
zaubers selbst den Schadenzauberglauben.

Das spiegelbildliche Verhältnis zwischen Schaden- und
Abwehrzauber schließt auch die Durchfühmng der jeweiligen
Rituale vor den Göttern ein; der Schadenzauberglaube artikuliert
sich insgesamt in einem durchweg theistischen Kontext. So wie
der Patient sich im therapeutischen Ritual hilfesuchend an die
Götter wendet, ebenso haben ihn die Schadenzauberer zuvor vor
den Göttern verleumdet und so die göttliche Sanktioniemng sei-
nes Unglücks erreicht. Die Schadenzauberer sind - so die
Vorstellung - in der Lage, die (gelegentlich vergöttlichte) simtu
(„Schicksal“) des Patienten zum Ungünstigen zu verändern. 8 Sie
können ihm unheilkündende, schadenzauberische Vorzeichen
senden. Die Spannung zwischen dieser performativen Macht, die
Schaden- und Abwehrzauber nach babylonisch-assyrischer
Vorstellung besaßen, und dem Handeln der Gottheit als freier
Person wird durch ein konsequent anthropomorphes Gottesbild
gemildert, bleibt aber letztlich bestehen und wird in den Quellen
nicht problematisiert. 9

8 Der wichtigste Beleg hierfür ist die Beschwörung Maqlü III 104ff. mit dem
zugehörigen Ritual, Maqlü Ritualtafel 49ff. (meine Zählung: 49’f.), das
inzwischen vollständig wiederhergestellt werden kann.

9 W. van Bimsbergen und F. Wiggermann vertreten dagegen die Hypothese,
der Schadenzauber sei nach babylonisch-assyrischer Vorstellung gerade
die Form der Ritualistik gewesen, die nicht in das sonst allgemeingültige
theistische Weltbild eingebettet gewesen sei („The embedded and therefore
acceptable survival of holistic magical power, and the concomitant recognition
of the uncertainty of divine, moral rule, imply the peripheral existence of a
non-embedded, immoral magic. This immoral and inexcusably non-theistic
magic, the black counteipart of äsipütu, defines witchcraft, at least from the
point of view of the centre“, Magic in History 28). Eine solche Deutung, die
angesichts ihrer eleganten Symmetrie zunächst attraktiv erscheinen mag,
steht m.E. jedoch im Widerspruch zu den Vorstellungsklischees, die uns in
den Texten der Beschwörungsliteratur tatsächlich überliefert sind. Auch
der Versuch, die in den Heilungsritualen allenthalben anzutreffende
Spannung zwischen der performativer Macht des rituellen Handelns und
dem theistischen Weltbild, in das die Rituale eingebettet sind, als Produkt
einer Entwicklung zu sehen, innerhalb derer eine ursprünglich nicht-thei-
stisch konzipierte Ritualistik erst sekundär, in einer jüngeren Phase in den
theistischen Kontext eingeführt und so überformt worden wäre (vgl. zuletzt
M. Worthington, AulaOr 21 [2003] 283), führt m.E. nicht weiter.

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