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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0085
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Vernunft und Existenz

35 ♦ klärt es | als »zur Humanität eines Meisters gehörig, seine Schüler vor sich zu warnen«.1107
Was er will, läßt er Zarathustra sagen, der seine Jünger verläßt: »Geht fort von mir und
♦ wehrt euch gegen Zarathustra!«108 Und noch im Ecce homo sagt Nietzsche: »Zuletzt ist
♦ nichts in mir von einem Religionsstifter ... Ich will keine Gläubigen ... Ich habe eine
erschreckliche Angst davor, daß man mich eines Tages heilig spricht ... Ich will kein
Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst ... Vielleicht bin ich ein Hanswurst.«" 109
Es ist bei beiden eine verwirrende Polarität zwischen dem Schein eines unbeding-
ten und bestimmten Forderns und der Scheu, dem Zurück, dem Schein des Nichtwa-
gens andrerseits. Das Versuchen, das Vielleicht, das Mögliche ist die Weise ihres Sa-
gens; die Unbereitschaft, Führer zu sein, bleibt ihrer Haltung eigen. Aber beide leben
in der heimlichen Sehnsucht, das Heil bringen zu wollen, wenn sie es könnten, und
wenn es vor ihrer menschlichen Redlichkeit sich als solches bewähren würde. Dem
entspricht bei beiden, wie sie am Ende ihres Lebens wagemutig, fast verzweifelt und
dann in völliger Ruhe zum öffentlichen Angriff ausholen, nunmehr ihre Zurückhal-
tung im Erdenken des Möglichen aufgebend an den Willen zur Tat. Kierkegaards An-
griff auf die Christenheit des kirchlichen Christseins, Nietzsches Angriff auf das Chris-
tentum überhaupt, beide von plötzlicher Gewaltsamkeit und erbarmungsloser
Entschiedenheit, entsprechen einander. Beide Angriffe sind rein negative Aktionen,
Taten der Wahrhaftigkeit, nicht des Aufbaus einer Welt.
Was Kierkegaard und Nietzsche bedeuten, wird erst kund durch das, was aus ihnen in
der Folge wird. Die Wirkung beider ist unabsehbar groß - größer noch im allgemeinen
Denken als im Fach der Philosophie -, aber unendlich zweideutig.
36 | Was Kierkegaard eigentlich bedeutet, ist weder in der Theologie noch in der Philo-
sophie klar:
Die moderne protestantische Theologie in Deutschland scheint, wo sie eigen ist, zu-
meist unter dem bestimmenden, direkten oder indirekten, Einfluß Kierkegaards zu ste-
hen - Kierkegaards, der jedoch als die praktisch-aktive Summe seines Denkens im Mai
1855 unter dem Motto »Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei« (Matth. 25, 6) ein
Flugblatt aussandte,110 in dem es heißt: »Dadurch, daß du nicht mehr an dem öffent-
lichen Gottesdienst teilnimmst, wie er jetzt ist ... dadurch hast du beständig ... eine
große Schuld weniger: du nimmst nicht daran teil, Gott dadurch für Narren zu halten,
daß man für neutestamentliches Christentum ausgibt, was es doch nicht ist.«111
In der modernen Philosophie sind durch Kierkegaard entscheidende Antriebe zur
Entwicklung gekommen. Wesentlichste Grundbegriffe gegenwärtigen Philosophie-
rens, zumal in Deutschland, gehen auf Kierkegaard zurück112 - Kierkegaard, dessen gan-

i 4,304.
ii 15, 116.
 
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