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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0093
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Vernunft und Existenz

Obgleich ich nie mein Dasein als das Umgreifende erkenne, sondern nur be-
stimmte empirische Wirklichkeitsgestalten, wie Materie, Leben, Seele, die ich erken-
47 nend nicht auf einen einzigen Grund zurückführen kann, bin | ich doch in ständiger
Gegenwart dieses umgreifende Dasein. Wissen wir von Leib und Leben, von Seele und
Bewußtsein nur so, wie es unserem Bewußtsein gegenständlich zugänglich wird, so
blicken wir doch durch all dieses Wißbare gleichsam hindurch auf das umgreifende
Dasein, das wir in Einem sind, und das in jeder physischen, biologischen, psycholo-
gischen Erforschbarkeit nur ein Besonderes wird, als das es in der Tat nicht mehr das
Umgreifende ist. Auch das empirische Bewußtsein, das ich als lebendes Dasein habe,
ist daher als solches nicht allein konstituierend für das Umgreifende, das ich als
Dasein bin. -
Das zweite Umgreifende bin ich als Bewußtsein überhaupt.128 Nur was in unser Be-
wußtsein tritt, erlebbar und Gegenstand wird, ist Sein für uns. Was nicht ins Bewußt-
sein tritt, auf keine Weise von wissendem Bewußtsein getroffen werden kann, ist für
♦ uns so gut, als ob es nicht wäre.129 Alles was für uns ist, muß daher eine Gestalt anneh-
men, durch die es im Bewußtsein gemeint oder erfahren werden kann: es muß in ir-
gendeiner Weise durch Gegenständlichsein sich kundgeben, in einem zeitlichen Voll-
zug des Bewußtseins Gegenwärtigkeit haben, in der Form einer Denkbarkeit Sprache
werden und damit eine Weise der Mitteilbarkeit gewinnen. Daß alles Sein für uns un-
ter die Bedingungen tritt, unter denen es im Bewußtsein auftreten kann, hält uns in
♦ dem Umgreifenden dieses Bewußtwerdenkönnens gefangen.130 Aber wir sind im
Stande, dieses als Grenze uns deutlich zu machen und mit diesem Grenzbewußtsein
für die Möglichkeit des Andern, das wir nicht kennen, offen zu werden. Bewußtsein
aber hat zweierlei Bedeutung131:
Wir sind Bewußtsein als lebendiges Dasein und als solches noch nicht oder nicht
mehr umgreifend. Leben ist der Träger dieses Bewußtseins, der selber unbewußte
Grund dessen, was wir bewußt erfahren. Als lebendiges Dasein, das wir in dem Um-
48 greifenden des Daseins schlechthin sind, | werden wir uns empirisch erforschbarer
Gegenstand, sehen uns getrennt in Gruppen der Artung und als eine in jeweils beson-
dere Individuen zerspaltene Wirklichkeit dieses Daseins. Wir sind aber nicht nur zahl-
loses einzelnes Bewußtsein, nicht nur einander mehr oder weniger ähnliches Bewußt-
sein, sondern darin auch Bewußtsein überhaupt: wir meinen darin auf das Sein nicht
nur auf einander ähnliche Weise, sondern auf identische Weise wahrnehmend und
fühlend gerichtet zu sein. Das ist gegenüber dem empirischen Bewußtsein der andere
Sinn von Bewußtsein, der Sinn des Bewußtseins überhaupt, das wir als ein Umgreifen-
des sind. Zwischen der Mannigfaltigkeit der subjektiven Bewußtseinsweisen und die-
ser Allgemeingültigkeit wahren Bewußtseins, das nur eines sein kann, ist ein Sprung.
Als Bewußtsein lebendigen Daseins sind wir in der Vielfältigkeit des endlos besonde-
ren Wirklichen, in der Enge der Vereinzelung gehalten, nicht umgreifend; als Bewußt-
 
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