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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0138
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Vorrang und Grenzen vernünftigen Denkens

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aus der Verstrickung durch die langsam reifende Vorsicht der doch unerbittlich for-
dernden Liebe gelöst werden kann. Es ist dann, wie wenn die Liebe gelähmt wird und
die abstrakte Forderung, in rationalisierten Existenzbegriffen ausgesprochen, tötend
übrigbleibt (es sei denn vielleicht, daß es ein Priester tut, der die Gnadenmittel seiner
Kirche bereit hat, um im Äußersten noch helfen zu können). Es ist ebenso ein existen-
tiell ruinöses Versagen, wenn diese Liebe weich wird und sich zufrieden gibt, den An-
dern, damit ihn und sich selber täuschend, im bloßen Dasein rechtfertigt und vor der
Gefahr der an jene verzweifelte Situation rührenden Bewegung zurückschreckt. Wie-
der hilft diesem ausweichenden Verhalten der Mißbrauch existenzerhellender, nun zur
Rechtfertigung existenzlosen | Daseins benutzter Begriffe und fördert nur die Abglei-
tung zur bloßen Daseinsgebundenheit in Angst und Gefühl, wenn die wahrhafte Liebe
nicht mehr wirksam ist, die in der harten, gleichsam eisigen, aufgeschlossenen und auf-
schließenden, aller Verachtung und aller Bosheit fernen Klarheit erst ganz lebendig ist.
So können die Begriffe einer philosophierenden Existenzerhellung gerade ein Mit-
tel werden, das Existentielle in trügerischer Vermeintlichkeit mehr als je zu verlieren.
Denn werden die Begriffe abstrakt angewandt, so rede ich von dem, was ich, wenn ich
wirklich auf seinem Wege bin,195 durch dieses Reden nur entferne. Ich spreche richtig
und bin darin zugleich ganz unwahr. Das Entscheidende spreche ich abstrakt vielleicht
treffend aus, aber so, daß es in concreto nicht nur nicht getroffen, sondern zerstört
wird. Das abstrakt Angewandte sagt in der Situation nichts mehr.
Denn die Wahrheit des existenzerhellenden Denkens liegt niemals im Inhalt als sol-
chem, sondern in dem, was durch das Denken in mir geschieht: entweder in der Leiden-
schaft des Möglichen, die vorbereitet und erinnert, oder in wirklicher Kommunikation,
wo das, was gesagt wird, als existentiell wahr - ungeplant aus dem absoluten Bewußt-
sein der Liebe196 - in jeweils einmaliger Weise hervorgeht. Jedesmal, wo das philoso-
phierend Gedachte als ein Gewußtes behandelt, angewendet, argumentierend benutzt
wird, um etwas zu erreichen - statt mit ihm in sich selbst und in realer Kommunikation
etwas hervorzubringen, was der Mensch selbst und nicht ein von ihm Gemeintes ist -,
ist es schon mißbraucht. Dieses Denken ist entweder wahr und dann unlösbar verbun-
den mit dem Sein des Denkenden, oder es ist als Inhalt ein wie ein Anderes Gewußtes
und dann unwahr. Die Begriffe der Existenzerhellung sind solche, in denen ich nicht
meinen kann, ohne in | ihnen selbst zu sein; während wissenschaftliche Inhalte das
sind, was ich auch dann wissen kann, wenn ich selbst in völlig anderen Kategorien lebe:
denn es kommt bei diesem wissenschaftlichen Wissen nicht darauf an, was ich bin.197
Allgemein formuliert würde also die Wahrheit existenzerhellender Aussagen jedesmal
verkehrt werden, wenn entweder ihr Inhalt zu einem Gewußten gemacht oder aus ih-
nen ein zweckhaft zu planender Willensinhalt abgeleitet würde. Dann wird aus der ver-
nünftigen Alogik solcher Aussagen eine fälschliche Logisierung. Der Inhalt dieser Aussa-

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