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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0202
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Wirklichkeit

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les, was vom Denken herkommen möchte, niedergeschlagen wird ...« (Schelling II, 3,
161).256 Denken kann | von sich aus die Wirklichkeit nicht erreichen. Es strandet an der 60
Wirklichkeit. Es kann nur durch den Rückprall seines Nichtkönnens fühlbar machen,
daß es auf einen Sprung ankommt in die Wirklichkeit hinein.
Eine durchaus denkbare Wirklichkeit wäre keine Wirklichkeit mehr, sondern nur
ein zum Möglichen Hinzukommendes, nicht ein Ursprung und damit der Ernst, son-
dern ein Abgeleitetes und Zweites. In der Tat befällt uns ein Gefühl des Nichts in dem
Augenblick, wo wir meinen, die gesamte Wirklichkeit in Denkbarkeit verwandelt zu
haben, d.h. diese gesamte Denkbarkeit an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen. Dann ist
der Gedanke, es brauchte keine Wirklichkeit zu geben, Zeichen dessen, daß das Nichts
der Denkbarkeit sich genug ist. Aber nicht uns ist es genug, die wir in dieser Vernichti-
gung des Wirklichen die eigene Vernichtigung erfahren. Vielmehr befreit uns das In-
nesein der Wirklichkeit aus der Scheinwelt des nur Denkbaren. Stoßen wir transzen-
dierend an die Wirklichkeit, dann ist uns das Denken nicht das erste, sondern, da das
Denken sich in der Wirklichkeit des Denkenden und in dem Rückprall vor dem Un-
denklichen versteht, das abgeleitete gegenüber der Wirklichkeit. »Nicht weil es ein
Denken gibt«, sagt Schelling (II, 3, 161 Anm.) »gibt es ein Sein, sondern weil ein Sein
ist, gibt es ein Denken.«257 Wenn Denken gar am Wirklichen zweifelt, so antwortet
Schelling angesichts dieses undenklichen und vordenklichen, dieses unvordenklichen
Wirklichen: »Das unendlich Existierende ist eben darum, weil es dieses ist, auch gegen
das Denken und allen Zweifel sicher gestellt« (II, 3, 161).258
Auch die Wirklichkeit des Denkenden selbst geht seinem Denken voran. Wir sind Herr
unserer Gedanken. Wir unterwerfen uns, sofern wir wirklich sind, nicht einem System
des Denkens, nicht einem gedachten Sein. Was ich denke, ist Möglichkeit auch da-
durch, daß ich es ergreifen oder fallen lassen kann. Was ich auch denke, in keinem
Denken | und in keinem Gedachten bin ich selbst als Ganzes aufgehoben. Mein Den- 61
ken ist vielmehr meiner Wirklichkeit unterworfen, es sei denn, daß diese Wirklichkeit
nicht ich selbst bin, sondern eine Seite meines empirischen Daseins, die ihrerseits sich
mit Recht vielmehr zu unterwerfen hat; oder sei es, daß ich überhaupt nicht ich selbst
bin, meine Wirklichkeit preisgegeben habe und dann in der Tat einem Anderen, was
es auch sei, ungewußt unterworfen bin.
Wenn die Wirklichkeit zwar als gedachte vor uns zurückweicht, aber doch als das all-
umfassend Tragende gegenwärtig ist, und wenn ihre Gegenwart in dem liegt, was durch
kein Denken in Möglichkeit verwandelt werden kann, so hat der philosophische Gedanke
nicht den Sinn, diese Undenkbarkeit des Eigentlichen aufzuheben, sondern zu steigern.
Die Wucht des Wirklichen soll durch Denken, das scheitert, fühlbar werden.
Der spekulative Gedanke ist vor Mißverständnis zu schützen:
Mit dem Gedanken des Wirklichen, das nicht Möglichkeit wird, denke ich an das
Wirkliche hinan. Wenn so mit der Kategorie der Möglichkeit zur Wirklichkeit trans-
 
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