Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0129
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
126

Grundsätze des Philosophierens

Gott hörten; Gott ist durch sie für die Nachkommenden indirekt, nicht geradezu da.
Diese Überlieferung wird zum Sternenhimmel der Menschheitsgeschichte, wenigstens
des Abendlandes, Indiens und Chinas.
Aber diese gesamte Überlieferung gibt keine Geborgenheit, keine handgreifliche
Gewissheit, auch sie keine absolute Verlässlichkeit. Denn als was sie an uns herantritt,
ist alles Menschenwerk, nirgends ist Gott in der Welt. Die Überlieferung bleibt immer
zugleich Frage. Jederzeit muss der Mensch im Blick auf sie aus eigenem Ursprung fin-
den, was ihm Gewissheit, Sein, Verlässlichkeit ist. Aber in der Unverlässlichkeit allen
Weltseins ist der Zeiger aufgerichtet. Er verbietet, in der Welt Genüge zu finden; er weist
auf ein Anderes. Es gibt keinen Boden äusser Gott.
7. Die Weltüberwindung. - Die ausnahmslose Vergänglichkeit, das Leiden und der
Tod, die Endlichkeit und Unvollendbarkeit, diese in den Grenzsituationen offenbar
werdenden Grundzüge des Daseins bedeuten, dass wir an allen in der Welt immanent
gütigen Massstäben scheitern.106
Es ist entscheidend für den Menschen, wie er das Scheitern erfährt: ob es ihm ver-
borgen bleibt und ihn nur faktisch am Ende überwältigt, oder ob er es unverschleiert
zu sehen vermag und als ständige Grenze seines Daseins gegenwärtig hat; - ob er phan-
tastische Lösungen und Beruhigungen ergreift, oder ob er redlich hinnimmt, in
Schweigen vor dem Undeutbaren. Wie er sein Scheitern erfährt, das begründet, wozu
der Mensch wird.
Wo das Scheitern in Unausweichlichkeit offenbar wurde, erwächst der Antrieb zur
Weltüberwindung. In den Grenzsituationen zeigt sich entweder das Nichts und stösst
in die absolute Verzweiflung; oder es wird fühlbar, was trotz und über allem verschwin-
denden Weltsein eigentlich ist. Selbst die Verzweiflung wird durch ihre Tatsächlich-
keit, dass sie in der Welt möglich ist, ein Zeiger über die Welt hinaus3.
Anders gesagt: der Mensch sucht Erlösung. Erlösung wird geboten durch die gros-
sen, universalen Erlösungsreligionen, deren es mehrere gibt. Ihr Kennzeichen ist eine
objektive Garantie13 für die Wahrheit und Wirklichkeit der Erlösung. Ihr Weg führt
durch das objektive Ereignis der Religion zum Akt der Bekehrung des Einzelnen. Dies
alles vermag Philosophie nicht zu geben. Und doch ist alles Philosophieren ein
Weltüberwinden, ein Analogon der Erlösung.
a. Weltüberwindung als Hinausdrängen aus der Welt: Wenn an der Grenze der
Glaube das eigentliche Sein gespürt hat, das nicht Weltsein ist, so wird der Drang mög-
lich, diese schlimme Welt zu verlassen, um allein in jenem transcendenten Sein zu le-
ben. Dann will ein asketisches Leben der Selbstvernichtung abtöten, was Welt an mir
ist, um im Negieren des Greifbaren das ungreifbare Positive zu gewinnen. Ein solches

a ein Zeiger über die Welt hinaus im Ms. hs. Vdg. für ein Hinweis auf etwas Anderes als die Welt
b Garantie im Ms. hs. Vdg. für Offenbarungsgarantie
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften