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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0171
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Grundsätze des Philosophierens

2. Die typischen Irrungen in der Auffassung des Lebendigen: Dass nicht das Leben
im Ganzen objektiviert werden kann und vom Leben nur eine Reihe von Erscheinungs-
weisen in einer besonderen Gegenständlichkeit objektiv zugänglich werden, hat zur
Folge, dass immer wieder dieselben Irrtümer in je nach dem Wissen der Zeit wechseln-
der Formulierung auftreten. Jedesmal handelt es sich um die Verkehrung einer ur-
sprünglich wahren Anschauung aus ihrer partikularen Bedeutung für eine Erschei-
nung des Lebens zur totalen Bedeutung als Wesen des Lebens.
a) Der specifisch lebendige Naturfaktor (Vitalismus): Da das Leben in der Gesamt-
heit seiner Erscheinungen nicht aus den Materien und den Gesetzen des Leblosen er-
klärt werden kann, setzte man einen neuen Causalfaktor voraus, der nur im Leben, nicht
sonst in der Natur vorkomme, sei er nun genannt nisus formativus143 oder Lebenskraft
oder Entelechie. Erst die Klarheit der Erkenntnis des Leblosen führt, in Unterscheidung
von solcher Erkenntnis, zur vitalistischen Position. Aber diese Gegenposition bleibt ge-
bunden an die Denkform, die sie für die Biologie, als für das Leben ungültig, bekämpft.
Denn der neue Causalfaktor des Lebens liegt selber innerhalb der Causalität des Leblo-
sen, sofern er behandelt wird als ein Faktor neben anderen. Jede Causalität ist, wo sie er-
kannt wird, ein Lebloses im Lebendigen, ein Mittel des Lebendigen oder ein vom Leben
Ermöglichtes und Hervorgebrachtes. Daher hat sich, wo der Lebensfaktor empirisch und
experimentell fassbar und lokalisierbar zu werden schien, dieser alsbald wieder enthüllt
als ein Stoff, als ein Hormon oder dergleichen. Was anfänglich als Einfangen des speci-
fischen Lebens erschien, war am Ende eine Erweiterung der Kenntnisse von den Mitteln
des Lebens (z.B. die Organisatoren Spemanns).144
Um für den Lebensfaktor einen vorstellbaren Inhalt zu finden, suchte man (Schopen-
hauer, heute besonders Woltereck) einen Anschluss an das »Innen«, das wir in uns selber
kennen.145 Das transmaterielle, transmechanische Innen des Lebens soll begriffen wer-
den nach Analogie des inneren Antriebes. Aber solche Versuche verschleiern den der For-
schung gegebenen Tatbestand. Das Innere unseres eigenen biologischen Leibesgesche-
hens erfahren wir keineswegs als unsere Seele; es ist vielmehr ein besonderes, verzweigtes
Problem, wie seelisches Erleben sich auf biologisches Leben bezieht, an welchen Stellen
und in welchen Zusammenhängen. Ferner ist die Zweckhaftigkeit des Lebendigen zwar
für uns nur gegenständlich denkbar, indem wir es auffassen, als ob eine zweckgerichtete
Absicht sie aufgebaut habe, aber ein Auffassungsschema ist nicht die Objektivierung ei-
ner realen, irgendwo innerlich vollzogenen Absicht, zumal diese Absicht im beobachte-
ten Lebendigen bei phantastischer, Menschenmaasse übersteigender Klugheit zugleich
phantastisch dumm sein müsste, wie die vorkommenden Unzweckmässigkeiten zeigen.
Der wahre Ursprung vitalistischer Gedanken ist der Sinn für den durch einen
Sprung vom Leblosen geschiedenen Charakter des Lebendigen, für das aus dem Leb-
losen nicht Ableitbare. Die Verkehrung dieser Wahrheit im Vitalismus erfolgt bei der
Entelechielehre dadurch, dass sie ihr Wissen in Causalkategorien des Leblosen aus-
 
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