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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0265
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2Ö2

Grundsätze des Philosophierens

Aber hier liegt nicht die ganze Wahrheit. Vielmehr ist gegen diese Anschauung fol-
gendes zu vergegenwärtigen:
aa. Realitätsumfang und Werthöhe: Das Grosse als das Umfangreiche, alles andere
Bedingende ist keineswegs an sich das Werthöhere. Vielmehr ist eher das Umgekehrte
wahr: Von der anorganischen Grundlage der Materie bis zum Organischen, dann vom
Leben überhaupt zu den vollendeten Gestaltungen, dann zum Menschen, dann wie-
der von der Menge der Menschen zum einzelnen Menschen in seiner Ausnahme geht
der Weg vom Massenhaften zum Selteneren und zugleich die Möglichkeit des Aufstiegs
zu höherem Wert.
bb. Der Wert des Einzelnen: Weil das Wesen des Menschen in seiner Existenz liegt,
die sich von Gott geschenkt weiss, kann der Mensch seinen Sinn nur im Einzelnen
durch dessen Geschichtlichkeit finden. Daher liegt der höchste Wert im Verborgen-
sten, in dem am Ende in tiefster Communication Incommunicablen, das seinerseits
noch die wahre Communication trägt.
Aber die Geschichtlichkeit des Einzelnen ist niemals wirklich in seiner Isolierung,
sondern wird wirklich nur durch Einsenkung in die Welt, so in Arbeit, Beruf, Aufgabe,
in Staat und Krieg, in der Teilnahme an der Geschichte im Ganzen; dies alles ist wahr-
haftig nur auf dem Grunde dessen, wo der Mensch mit dem andern absolut solidarisch
ist bis in den Tod.
Zwar ist alle Verwirklichung nur möglich in Hingabe an eine Sache. Dann steht als
Inhalt, als an sich daseiende und fordernde Realität dem Einzelnen vor Augen, woran
ihm alles liegt. Es sind nicht Vorstellungen als selbstgeschaffene Illusionen, sondern
Wirklichkeiten, die den Menschen bewegen. Aber im zeitlichen Dasein gewinnen sie
Realisierung nur durch die geschichtlich sich vollziehende Verwirklichung des
Menschseins im je Einzelnen. Das Objektive, das Ganze, das Ansichseiende wird Welt-
wirklichkeit, soweit es von je Einzelnen in Gemeinschaft ergriffen wird.
cc. Der Drang zur Sichtbarkeit für Andere und die Verborgenheit: Historische Wir-
kungen sind ihrer Art nach heterogen. Von zufälligen Auslösungen (Columbus) bis zu
gehaltvollen Fortwirkungen des Wesens (Plato), von Wirkungen durch Missverständ-
nis bis zu wahrem Widerhall des Ursprünglichen gibt es alle Möglichkeiten. Aber die
geistig eindringendste, eigentlich innerlich verbindende, wahrheitszeugende Wirkung
wird dann sein, wenn die Überzeugung der Späteren von der Echtheit des auf sie wir-
kenden vergangenen Lebens zugleich auch die Wahrheit trifft.
Es ist ein Drang in uns zur Mitteilung, damit zum Gehörtwerden auch in der Zu-
kunft, zum Bewahren des geistig Erworbenen in der Überlieferung. Vergessen des Er-
rungenen, des Grossen und Vorbildlichen erscheint ein unersetzlicher Verlust, ab-
sichtliches Vernichten solcher Überlieferung als böse. Das ist wahr. Solche historische
Wirkung ist das schönste Band, das Menschen durch die Zeit miteinander verbindet.
 
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