Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0283
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
280

Grundsätze des Philosophierens

telligenz in den Dienst des geistigen Zerstörens. Durch Geist wird Geist vernichtet. Die-
ser nihilistischen Skepsis wird das Leben gleichgiltig. Der Mensch lässt das eigene Le-
ben ohne Sinn vernichten, gibt sich aus Laune dem Tode preis und vernichtet in
gleicher Beliebigkeit fremdes Leben, wie man Fliegen tötet. Das Leben hat keinen Wert
mehr.
Oder in der sich aufzwingenden Glaubenslosigkeit, diesem Leben ohne Geborgen-
heit und ohne Vertrauen, weder in die eigene Herkunft noch in die Zukunft, hält sich
ein nihilistischer Aktivismus. Er fragt nicht nach Sinn, steht soldatisch auf seinem Po-
sten, vollzieht, was die Situation zu fordern scheint, verhält sich im Rahmen des Mög-
lichen ursprünglich menschlich zum Andern. Was im Ganzen geschieht, ist gleichgil-
tig; dass ich dem verdurstenden Kameraden unter Lebensgefahr Wasser bringe, ist
unbetonte Wesentlichkeit. Hier aber liegt schon der Keim, der aus dem Nihilismus her-
ausführen wird, der in solcher Haltung von Anfang an faktisch garnicht lag.
3. Konservative Erneuerungen: Im Wirbel der Irrungen, der Ratlosigkeit und Hoff-
nungslosigkeit treten die alten beständigen Gehalte wieder auf, die Institutionen, Ge-
danken, Anschauungen, Bilder. Sie bieten sich an als das Heil, als die philosophia per-
ennis, als der ewige unveränderliche Glaube der Religion, als die einst lebendigen tief
durchdachten Staatsordnungen. Sie suchen sich wiederherzustellen unter Assimila-
tion des Neuen, das das Zeitalter gebracht hat. Sie bezaubern durch Gehalt und Tiefe
des geschichtlichen Grundes, auf den sie sich stützen. Sie überraschen durch Ge-
schicklichkeit im Übernehmen alles specifisch Modernen in einer Gestalt, die des Sta-
chels, der Gefahr, der Leidenschaft beraubt ist. Sie enttäuschen durch starres Festhal-
ten des Alten in Dogmen, Formen, Forderungen. Noch suchen wir die Erfüllung der
alten Werte in schaffenden Menschen, deren gegenwärtiges Wesen Weg und Vorbild
wäre. -
Diese drei Richtungen geben als solche keine eindeutige Wegweisung. In jeder
Richtung liegt auch Wahrheit. Es ist erstens in der Idee der immanenten Weltvollen-
dung sinnvoll und unerlässlich, für partikulare Zwecke Verstand und guten Willen ein-
zusetzen, aufbauend an der Zukunft zu arbeiten. Zweitens bleibt der radikale Verzicht
ein specifisch moderner Übergang in jedem einzelnen Menschen: angesichts der
schaurigen Zukunftsperspektiven, in der Ohnmacht seines Preisgegebenseins gerät er
in eine Hoffnungslosigkeit, die nichts mehr wollen kann; er muss, wenn er redlich sein
will, angesichts des Äussersten aus dem Nichts den Grund des Wahren ursprünglich
wiederfinden. Drittens sind konservative Erneuerungen eine Form der Aneignung des
geschichtlichen Grundes, aus dem wir leben. Ohne diesen Grund fangen wir nicht in
Wahrheit von vorn an, sondern versinken ins Nichts.
Zu verwerfen aber sind die Isolierungen jener Richtungen und die Umschläge in
das Unwahre, das geschildert wurde. Diese Richtungen sind nicht Angabe von Wegen,
auf denen das Ziel anschaulich sichtbar wäre.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften