Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0327
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
324

Grundsätze des Philosophierens

Insbesondere liegt hinter uns die grosse Mannigfaltigkeit der Lebensformen, Staats-
verfassungen und geistigen Haltungen, der grossen Persönlichkeiten und der seither
unerreichten geistigen Schöpfungen in den Jahrhunderten vom Mittelalter bis zur
Neuzeit. Die Zeit der Welteroberung durch den unternehmenden Kapitalismus scheint
eine Zeit der Befreiung des Menschen zu all seinen persönlichen Möglichkeiten gewe-
sen zu sein. Die Chancen des ausserhalb, des Abenteuers und der Gründungen in dem
Erdraum bewirkten eine unerhörte Entfaltung individueller Kräfte. Erstarrung war un-
möglich. Noch einmal ist vielleicht die letzte Chance dieser Übergangs]ahrhunderte
der Weltgeschichte gegeben in der kommenden wirtschaftlich-technischen Auf-
schliessung der noch schlummernden Kontinente. Noch einmal gibt es ein letztes Aus-
holen erobernder Unternehmung, nun schon nicht mehr in Händen Einzelner, son-
dern grosser Organisationen. Dann aber wird mit der Ergreifung aller Rohstoffe und
Energien diese Bewegung zu Ende sein. Das Weltreich ist der Abschluss infolge Aufhö-
rens der umwälzenden Bewegungsmöglichkeiten zugunsten einer bleibenden, sich
wiederholenden, sparenden Organisation des Erdballs, ineins mit einer dazu gehören-
den ungeheuren Nivellierung und Vereinheitlichung des Menschseins.
Dieses Bild möglicher Entwicklungen ist nicht zu leugnen. Aber es trifft nur eine
Linie. Nie ist mit ihr das Ganze des Geschehens erschöpft. Entweder gelangt mit ihr
das Weltreich an einen Punkt, wo es infolge neuer Unordnungen zerfällt und wieder
ein Zeitalter kämpfender Staaten entsteht. Oder im Weltreich gibt es Spannungen
sachlicher Notwendigkeit, welche die Ordnung selber[,] und was in ihr geschieht, in
dauernder Bewegung halten. Dafür gibt die Geschichte Hinweise aus dem Leben der
bisherigen Reiche und aus den Staaten, welche infolge günstiger geographischer Lage
durch lange Zeiten den Notwendigkeiten der Selbstbehauptung nur vorübergehend
und nur in begrenztem Maasse ausgesetzt waren, wie England und Nordamerika. Sie
sind zwar nicht Vorbild, aber Ausgangspunkt für Hoffnungen und sind Felder einzig-
artiger politischer Erfahrungen.
Das Reich des Mittelalters hat in der Spannung vom imperium und sacerdotium
(Kaiser und Papst) einen Vorzug, an dem es allerdings auch als Reich zugrundeging.
Diese Spannung, die im Umgreifenden des Menschseins ihren Grund hat und eine der
möglichen Erscheinungsformen im Menschsein notwendiger Gegensätze ist, brachte
das sich steigernde Leben, die Vernichtung jeder Selbstzufriedenheit. Als das Reich fak-
tisch zerbrach, waren zum Teil auch durch den Gehalt jener Spannung die Keime ge-
legt zu weiterer Fruchtbarkeit menschlicher Entfaltungen in der nun wieder zerrisse-
nen Welt.
Was in England und Amerika geschah, ist, bei allen mitlaufenden Entgleisungen
und Corruptionen, ein durch Jahrhunderte vollzogenes Kämpfen politischer Realitä-
ten in Richtung auf eine möglichst vernünftige Ordnung sich im Kampfe zu gemein-
samer Willensbildung findender Menschen.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften