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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0377
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374

Grundsätze des Philosophierens

aa. Bewusstheit und Unbewusstheit im Gang der menschlichen Gemeinschaft: Was
Menschen tun, hat in dem dadurch ausgelösten Tun anderer Folgen, an die niemand
gedacht, die niemand gemeint und gewollt hat. Diese Folgen bestimmen in ihren
Rückwirkungen das Dasein aller. Es sind die Zustände der Gesellschaft, die von Men-
schen hervorgebracht sind und durch das Verhalten der Menschen aufrecht erhalten
werden, auch ohne im Ganzen geplant zu sein. Diese Zustände sind für den Einzelnen
wie eine zweite Naturgegebenheit, aber sie sind eine Gegebenheit, deren wirkende Ele-
mente die Handlungen, das Verhalten, die Erwartungen von Menschen bleiben.
Was der Mensch hervorbringt, ist überall zunächst unbewusstes Ergebnis. Der
Mensch spricht, bevor er sich der Sprache als Sprache bewusst wird, ihre Grammatik
erkennt, ihre Richtigkeit bewusst regelt, an ihrer Form arbeitet. So entstehen auch Ge-
sellschaft und Staat, geschehen deren Verwandlungen, insbesondere die stillen, un-
merklichen und doch eigentlich entscheidenden grossen Veränderungen der gesam-
ten Zustände, bevor jemand sich ihrer im Ganzen bewusst wird. Das menschliche
Bewusstsein hat zwar stets im einzelnen seine Absichten, aber diese sind als ein zu-
nächst schwaches Element aufgenommen in den unbewussten Gang des Ganzen.
Das Unbewusste liegt also nicht nur in dem Naturgeschehen ausserhalb des Men-
schen und im Menschen als Natur[,] sondern in den Situationszusammenhängen und
in den allgemeinen Zuständen der Gesellschaft.
Das Bewusstsein steht zwischen dem Einzelnen und dem objektiven Geschehen
der Menschenwelt. Es hat sowohl nach dem Inneren jedes einzelnen Menschen wie
nach der Aussenwelt gemeinsamen Daseins vor sich ein Dunkel, das, obgleich ins
Grenzenlose der Erhellung zugänglich, doch immer als das Grundgeschehen bleibt,
das aus dem Umgreifenden kommt. Das Bewusstsein ist wie ein leuchtender Punkt in
diesem von beiden Seiten, von innen und von aussen, umströmenden Dunkel.
Aber das Bewusstsein ist nicht ein blos hinzukommendes Licht, sondern ein wir-
kender Faktor. Das Bewusstsein denkt Zwecke und sucht planmässig Mittel für seine
Ziele. Doch erscheint das Bewusstsein im Gang der Dinge selber wieder als ein Mittel
umgreifenden, uns undurchsichtigen Sinns eines uns im Werden führenden Seins.
Wenn durch das Bewusstsein, sein Erkennen, sein bestimmtes Wissen, sein Zielsetzen
und Planen, immer mehr der Gang der Dinge geführt wird, so ist doch das Bewusst-
sein selber aus dem Dunkel des Umgreifenden geführt.
Immer bleibt das Grundverhältnis, dass auch bei jeweils weitester Bewusstseinsauf-
hellung das Unbewusste des aus dem Umgreifenden kommenden Geschehens den
Gang der Dinge entscheidend bestimmt. Alles Bewusstsein bleibt in seiner Verwirkli-
chung ein Versuch, dessen Ergebnis rückwirkend es selber wieder verändert.
Dies Unbewusste durchdringt sich mit dem Bewusstsein derart, dass mit der Steige-
rung des Bewusstseins durch dessen Hervorbringungen das Unbewusste selber wächst
und sich entfaltet. Das Bewusstsein ist nicht nur Aufhellung von Gegebenem, sondern
 
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