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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0472
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Grundsätze des Philosophierens

469

Ein anderes Beispiel ist der Märtyrer. Ein näheres empirisches Studium dieses christ-
lichen Phaenomens zeigt zwar eine grossartige Hingegebenheit, eine Unerschütter-
lichkeit und Tapferkeit, die sowohl bei Heiden wie bei Christen vorkommt. Aber der
breite Strom der Märtyrerwirklichkeit zeigt in einem erschreckenden Masse auf der ei-
nen Seite den Willen zum Effekt, einen Drang zum Sterben, neurotische Analgesien,
auf der anderen Seite ein Bedürfnis der durchschnittlichen menschlichen Sensations-
und Erbauungsantriebe zum Anblick von Märtyrertum, um sich darin zu trösten ge-
genüber den Ungerechtigkeiten und Greueln der Welt. Es weht eine unsaubere Luft
von Unredlichkeit und moralisch verschleierten perversen Antrieben durch Märtyrer-
tum und Begeisterung am Märtyrertum. Aus dem Zusammentreffen des Forderns von
repraesentativen Märtyrern und der Bereitschaft, sich als Märtyrer feiern zu lassen und
Nachruhm zu gewinnen, erwächst ein pathetisches Leiden und Sterben, das selbstre-
flektiert seine Grösse geniesst und an die Stelle schlichten Menschentums selbst im
grauenhaften Schicksal ein theaterhaftes Schauspiel setzt.
e) »Religionen sondern in der Welt als heilig aus, was in der Tat weltlich und nur
von Menschen gemacht ist. Die Steigerung im Geheimnis hat die Folge der Entwer-
tung der übrigen Welt. Die hohe Ehrfurcht, wenn sie religiös gebunden wird, treibt zur
Verletzung der Ehrfurcht überall, wo die Religion nicht hindringt. Die specifisch fi-
xierte Ehrfurcht ist nicht mehr die umfassende allbegründende Ehrfurcht, die Goethe
aussprach in der Ehrfurcht vor dem, was über uns, um uns und unter uns ist,353 diese
totale, unfanatische, undogmatische Ehrfurcht. Es liegt im Abgrenzen zugleich ein
Ausschliessen und Vernichten.«
Dieser Vorwurf gilt keineswegs für alle religiösen Menschen. Vielmehr ist die Reli-
gion fähig, die gesamte Welt in ihren Schein zu bringen, von ihrem Specifischen her
einen Abglanz auf alle Realität zu werfen. Aber jener Vorwurf trifft viele reale Verwirk-
lichungen der Religion, wenn diese auch vielleicht vom Religiösen selber her als Ab-
gleitung verworfen werden können.
g. Forderungen der Religion. - Zusammenfassend blicken wir noch einmal auf die
Religion, wie sie einerseits verspricht, erfüllt, andererseits fordert.
Die Religion fordert die durch sie bestimmte Gemeinschaft der Menschen, die Ge-
meinschaft in der Religion durch Religion. Sich von der Religion zu entfernen, bedeu-
tet, sich von der Gemeinschaft zu lösen. In der Tat ist die tiefste und verlässlichste Ge-
meinschaft die religiös gestiftete und gebundene. Vom Philosophieren her geht dagegen
ein Antrieb auf Lockerung solcher Gemeinschaft, und zwar erstens, weil sie immer par-
tikular ist trotz Totalitätsanspruch, zweitens, weil ihre Autorität die existentielle Mög-
lichkeit zu lähmen tendiert, drittens [,] weil andere Gemeinschaften, die nicht primär
religiös, aber doch unbedingt sind, in ihrem Rechtsanspruch anerkannt werden müs-
sen: die vernünftige Gemeinschaft der Menschen als Menschen in den Dingen der
Welt, die todesbereite Kameradschaft soldatischer Solidarität, die geschichtliche Ge-
 
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