Grundsätze des Philosophierens
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nes Glaubens garnicht zu. Er setzt, während er begründet, den Glauben voraus und
würde es als Verrat des Glaubens empfinden, wenn er ihn zweifelnd befragte. Alle
Gründe sind erst auf Grund des Glaubens gemeint und daher für Ungläubige ein täu-
schendes Nahebringen. Alle Gründe, sofern sie aus dem Glauben einen wissenden
Glauben machen wollen, entziehen den Menschen der gottgewollten Situation des
Nichtwissens, des Nichthabens, des Suchenmüssens von Gott und Gottes Willen in
der Vieldeutigkeit des Weltseins.
Was dem Philosophierenden im Innersten verwehrt, den Christusglauben anzu-
nehmen, das ist eine Scheu, die diesen Glauben für ihn selbst als Gotteslästerung er-
scheinen lässt. Denn Gotteslästerung wäre die Verwechslung von Gott und Mensch.
Der Christusgläubige meint unbegreiflicherweise diese Verwechslung nicht zu bege-
hen. Ihm ist die Wahrheit des Glaubens das Paradox, das Absurde, wie Kierkegaard es
unerbittlich gedeutet und bejaht hat. Aber philosophierend darf man den eigentli-
chen Antrieb, aus dem die Leidenschaft des Nein kommt, nicht verschweigen. Dem
Christusgläubigen, der das Wunder und die Liebe Gottes in dem Paradox glaubt, wird
damit nicht der Vorwurf der Gotteslästerung gemacht. Viele Christusgläubige sind der
lebendige Beweis, dass ihnen Gotteslästerung fern liegt. Aber verwundern muss sich
der Philosoph, dass das möglich ist, und fordern, dass der Glaubende das Absurde als
Absurdes anerkenne, zu dem er sich bekennt.
d. Das Christentum. - Christentum heisst die abendländische Religion in der Ge-
samtheit ihrer Erscheinungen. Dieses Christentum umfasst viel mehr als den Christus-
glauben, derart, dass es noch besteht, auch wenn der eigentliche Christusglaube preis-
gegeben wird.
Wenn Christentum mehr ist als Christusglaube, so möchte man formulieren, was
dieses Mehr sei oder in welcher Richtung es liege. Das ist nicht möglich[,] aus einem
Princip konstruktiv zu entwickeln. Vielmehr muss man aus vergleichender histori-
scher Anschauung charakteristische Grundzüge zu fassen versuchen. Dabei wird die
Frage, woher diese Grundcharaktere kommen, nicht gestellt. Es ist genug, dass sie sich
entweder selbst als christlich fühlen oder dass sie unmittelbar mit Erscheinungen
christlichen Glaubens Zusammenhängen. Solche Grundcharaktere, die zwar selten
rein auftreten, aber trotzdem als wesentlich in die Augen springen3, sind etwa:
Mit dem Christentum geschah eine neue Verwirklichung der Seele, ein Offenbar-
werden bis dahin nicht erfahrener Seelenursprünge.
Christentum ist der Versuch, das Äusserste durchzuleben und durchzudenken, der
Weg an die letzten Grenzen undb Möglichkeiten.
a statt in die Augen springen in den Abschriften A. F. und Schott sich aufzwingen
b statt und in den Abschriften A. F. und Schott der
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nes Glaubens garnicht zu. Er setzt, während er begründet, den Glauben voraus und
würde es als Verrat des Glaubens empfinden, wenn er ihn zweifelnd befragte. Alle
Gründe sind erst auf Grund des Glaubens gemeint und daher für Ungläubige ein täu-
schendes Nahebringen. Alle Gründe, sofern sie aus dem Glauben einen wissenden
Glauben machen wollen, entziehen den Menschen der gottgewollten Situation des
Nichtwissens, des Nichthabens, des Suchenmüssens von Gott und Gottes Willen in
der Vieldeutigkeit des Weltseins.
Was dem Philosophierenden im Innersten verwehrt, den Christusglauben anzu-
nehmen, das ist eine Scheu, die diesen Glauben für ihn selbst als Gotteslästerung er-
scheinen lässt. Denn Gotteslästerung wäre die Verwechslung von Gott und Mensch.
Der Christusgläubige meint unbegreiflicherweise diese Verwechslung nicht zu bege-
hen. Ihm ist die Wahrheit des Glaubens das Paradox, das Absurde, wie Kierkegaard es
unerbittlich gedeutet und bejaht hat. Aber philosophierend darf man den eigentli-
chen Antrieb, aus dem die Leidenschaft des Nein kommt, nicht verschweigen. Dem
Christusgläubigen, der das Wunder und die Liebe Gottes in dem Paradox glaubt, wird
damit nicht der Vorwurf der Gotteslästerung gemacht. Viele Christusgläubige sind der
lebendige Beweis, dass ihnen Gotteslästerung fern liegt. Aber verwundern muss sich
der Philosoph, dass das möglich ist, und fordern, dass der Glaubende das Absurde als
Absurdes anerkenne, zu dem er sich bekennt.
d. Das Christentum. - Christentum heisst die abendländische Religion in der Ge-
samtheit ihrer Erscheinungen. Dieses Christentum umfasst viel mehr als den Christus-
glauben, derart, dass es noch besteht, auch wenn der eigentliche Christusglaube preis-
gegeben wird.
Wenn Christentum mehr ist als Christusglaube, so möchte man formulieren, was
dieses Mehr sei oder in welcher Richtung es liege. Das ist nicht möglich[,] aus einem
Princip konstruktiv zu entwickeln. Vielmehr muss man aus vergleichender histori-
scher Anschauung charakteristische Grundzüge zu fassen versuchen. Dabei wird die
Frage, woher diese Grundcharaktere kommen, nicht gestellt. Es ist genug, dass sie sich
entweder selbst als christlich fühlen oder dass sie unmittelbar mit Erscheinungen
christlichen Glaubens Zusammenhängen. Solche Grundcharaktere, die zwar selten
rein auftreten, aber trotzdem als wesentlich in die Augen springen3, sind etwa:
Mit dem Christentum geschah eine neue Verwirklichung der Seele, ein Offenbar-
werden bis dahin nicht erfahrener Seelenursprünge.
Christentum ist der Versuch, das Äusserste durchzuleben und durchzudenken, der
Weg an die letzten Grenzen undb Möglichkeiten.
a statt in die Augen springen in den Abschriften A. F. und Schott sich aufzwingen
b statt und in den Abschriften A. F. und Schott der