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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0481
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Grundsätze des Philosophierens

sen ständig unredliche Versöhnungen zwischen offenbarten Glaubensforderungen
und den Ansprüchen der Welt vollzogen werden. Wasa Kultur heisst, mussb im Chri-
stentum gegen das Christentum sich durchsetzen, entweder faktisch bekämpft oder
mit schlechtem Gewissen oder in unwahrhaftigen Compromissen oder in glücklichen
Gedankenlosigkeiten. Eine unreine Atmosphäre geht durch das Christentum.
Grundprincip der Verkehrungen ist, dass der Mensch, der Christus glaubt, doch
Christus nicht folgen kann, mit wenigen Ausnahmen, wie Franz von Assisi. Wer nicht
unwahrhaftig ist, kann sich nicht verbergen, dass sein Leben aus anderen Grundsät-
zen geführt wird als das Leben Jesu. Es ist nicht der Mangel einer mehr oder weniger
grossen Annäherung an das Ideal Jesu, das praktisch anerkannt würde, sondern der ra-
dikale Mangel, dass im Princip die Nachfolge verleugnet wird durch die Gesamtreali-
tät des eigenen Daseins und seiner Behauptung in der Welt. So geschehen innerhalb
des Christentums die Brüche als Umkehrungen in das Gegenteil, von denc Forderun-
gen der Bergpredigt zu innerweltlichem Ethos bis zur heldischen Gesinnung des Krie-
gers, vom Monotheismus zur Trinität bis zur praktischen Vielgötterei, von weltloser
Glaubensgemeinschaft zur politisch allumfassenden Machtorganisation von Kirchen.
Und solche Umkehrungen geschehen unter Begleitung geistig ungemein intensiver
Anstrengungen; durch raffinierte Deutungen, Unterscheidungen und Combinatio-
nen will man den Bruch leugnen, vielmehr alles in die eine ursprüngliche/ nie preis-
gegebene Wahrheit hineinnehmen.
Darum ist der Rückblick auf die christliche Geschichte so zweideutig. Das Entsetz-
lichste, vorher nie dagewesene, nämlich geistig begründete (nicht mehr naiv vitale)
Greuel und die hellsichtigsten, unbefangensten, liebendsten Menschen sind in ihr zu
finden.
Es ist nicht zu leugnen, dass in diesen Unlösbarkeiten eine Steigerung des Seelenle-
bens stattgefunden hat. Zugleich mit einer abgründigen Heuchelei ist eine empfindli-
che Redlichkeit erwachsen. Mit dem Reichtum seelischer Erfahrungen wurde eine nie
vorher da gewesene Durchleuchtung der Seele verwirklicht. Es ist, als ob hier vermöge
einer Aufgabe, die unerfüllbar ist, die Seele des Menschen, die an sich einer naturgege-
benen, endgiltigen, wahren Verfassung nicht fähig ist, hineingetrieben wurde in Ver-
wirklichungen, die ohne den Zwang des Absurden und Unmöglichen nicht gelungen
wären. Es wurden Erfahrungsregionen betreten, die nun der Ausgangspunkt werden
konnten für eine Wahrhaftigkeit, die unter Durchleuchtung der Entgleisungen neue
Wege ihres Ganges in der Zeit betritt.

a nach Was im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. heute
b muss im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu musste
c nach den im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. ausserweltlichen
d nach ursprüngliche, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. vermeintlich
 
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