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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0494
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Grundsätze des Philosophierens

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Ganz anders ist der Christusglaube zu beurteilen, der sich von dem Anspruch und
den Folgen der Ausschliesslichkeit befreit. Es ist eine Frage des Zeitalters, ob die Ab-
nahme des eigentlichen Christusglaubens - die keineswegs das Ende des Christentums
bedeuten würde - ein vorübergehender Tiefstand oder Folge einer weltgeschichtlich3
entscheidenden Bewegung ist. Es scheint heute, dass immer weniger Menschen an
Christus als den einen, alleinigen Sohn Gottes, als den von Gott gesandten Mittler
glauben. Aber es wird noch an ihn geglaubt. Der Glaube erfüllt Menschen persönlich
hohen Ranges. Es ist eine nicht vorweg zu beantwortende Frage, ob der Christusglaube
wieder wachsen wird oder ob er verwandelt aufgefangen werden kann als Moment der
biblischen Religion, befreit von dem Stigma der Ausschliesslichkeit. Was er dann be-
deuten würde, oder anders, was von ihm bliebe, wenn er nicht mehr eigentlicher Chri-
stusglaube ist, das ist eine Frage innerhalb der biblischen Religion, wenn sie aus ihrer
umgreifenden Wirklichkeit im Ganzen diesen verabsolutiert heraustretenden Glau-
ben wieder einschmilzt.
dd. Über den Sinn der Angriffe gegen das Christentum: Dem Leser unserer Erörte-
rungen wird vielleicht der Eindruck einer widerspruchsvollen, unentschiedenen, sich
entziehenden Haltung entstanden sein. Die Einwände und die Einwände gegen diese
Einwände, das hin und her, scheinen zu verwerfen und doch anzunehmen, abzustos-
sen und doch halten zu wollen. Es scheint[,] als ob mit der einen Hand genommen
würde, was mit der anderen wieder gegeben wird. Der Verstand, der eindeutige Ent-
scheidung im Sagbaren will, empört sich und fragt: was ist denn nun eigentlich ge-
meint und gewollt? Dazu ist zu sagen:
Wir gerieten zwar wiederholt an einen Punkt, wo kein Einwand mehr gegen einen
Einwand blieb, sondern der Einwand in seiner Negativität zu eigen gemacht wurde.
Aber das geschah doch nur inbezug auf eine Auswirkung, eine Erscheinung, ein end-
lich Fassliches, nicht inbezug auf das Ganze.
Inbezug auf das Ganze ist es sachlich notwendig, im Medium von Gedankenbewe-
gungen ansprechen zu lassen, was an keiner Stelle der Bewegung als fester Gedanke di-
rekt hingestellt werden kann. Es kommt darauf an, den Ursprung in uns selbst zu er-
wecken, den Entschluss, durch den wir leben, zu klären, den Grund spürbar zu
machen, auf dem wir stehen. Das ist nur indirekt möglich durch die dialektische Ge-
dankenbewegung.
Die tiefsten Unterscheidungen unserer Existenz sind rational nicht angemessen
aussprechbar, aber sie erscheinen durch Entscheidungen in der Welt inbezug auf end-
liche Dinge. Die Grundentscheidungen sind nicht solche zwischen aussprechbaren
und damit fixierbaren Positionen. Sie gehen vielmehr verloren, wenn sie mit solchen

a weltgeschichtlich nach dem Vorlesungs-Ms. 1945/4 6 statt weltgeschichtlichen in den Abschriften Ger-
trud Jaspers, A. F. und Schott
 
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