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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0500
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Grundsätze des Philosophierens

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Verzweigungen der Entwicklungen lagern in diesen Schriften übereinander und
durcheinander. Die Bibel hört mit diesen fortgesetzten Ablagerungen in den Texten
erst auf durch die abschliessende Kanonbildung der späten Priesterreligionen, der jü-
dischen und christlichen.
So ist die Bibel als Ganzes Ausdruck des Umgreifenden, das als solches gegenwär-
tig werden muss. Man darf sich nicht verlieren in die Fixierungen und Abgleitungen,
die überall schon in der Bibel selber aus den Ursprüngen heraus vollzogen sind.
Nun darf man nicht meinen, dass jede der vielen in der Bibel sich gründenden Re-
ligionen nur eine Teilwahrheit aus ihr sich hole. Vielmehr ist die faktische Realität ei-
ner jeden Kirche oder Konfession ein Ganzes und birgt in sich die Möglichkeit der gan-
zen biblischen Religion. Sie betonen zwar Verschiedenes, sie gestalten ihre Erscheinung
abweichend, sie haben ihre Besonderheit nur durch ein Moment aus der Bibel. Aber
es wäre ungerecht, einer von ihnen abzusprechen, was in der Bibel möglich und gege-
ben ist, wenigstens ungerecht gegenüber dem wirklichen Leben der Frommen, wäh-
rend es richtig wird gegenüber dogmatischen Fixierungen von Glaubenssätzen, Riten,
Kultordnungen, Gesetzen. Denn im Leben der Einzelnen kann bei allen Glaubensge-
meinschaften die Bibel im Ganzen lebendig sein.
3. Die Autorität der Überlieferung der Achsenzeit umfasst mehr als biblische Reli-
gion: Auch die Inder, Buddhisten, Chinesen haben ihre heiligen Bücher, die aus der-
selben Zeit stammen wie die Bibel. Diese sind durch ihren Gehalt für einzelne Abend-
länder von Bedeutung gewesen, einen merkbaren Einfluss auf das Abendland neben
der Bibel haben sie nicht gewonnen. Bei einer Besinnung, die philosophisch auf das
Ganze des geschichtlichen Menschseins geht, dürfen sie jedoch nicht übersehen wer-
den.
Zunächst spricht ein Vorurteil für sie: Was grosse Menschen verstanden haben, was
ganze Völker und Kulturen getragen hat, das kann nicht einfach als Irrweg fallen. Gott
spricht durch alle Menschen, deren Wesen aus Unbedingtheit lebte. Was er hier
spricht, gilt zwar nirgends identisch für alle, aber es gilt als etwas, worauf zu hören ist
und wovon der Communication suchende Mensch sich innerlich treffen lassen soll.
Dann spricht aus diesen fremden Welten uns Wahrheit an, die - man weiss nicht
wie und in welcher Verwandlung - auch Wahrheit für uns werden kann. Es ist Wahr-
heit, die in der eigenen Überlieferung so nicht zu hören ist. Wir würden uns berauben,
wenn wir unseren Blick davor verschlössen.
Schliesslich liegt hier das Geheimnis der Achsenzeit, eine objektive Realität. Der
Grund der Menschheit für ihre bisher höchsten Möglichkeiten ist ein dreifacher für
die drei Hauptmassen der Menschheit. -
Die drei Grundsätze bringen nur die formale Aussage eines »mehr als ...«[.] Dieses
Mehr birgt stets die Gefahr eines Weniger in sich, während die Beschränkung auf das
Weniger die Gefahr unwahrer Enge, Fixierung, Erstarrung bringt.
 
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