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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0531
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528

Grundsätze des Philosophierens

Die Zuwendung zu der Geschichte bringt Zerstreuung in das Vielfache und Unver-
bundene. Die Forderung, jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken, geht gegen
die Verführung, sich im Anblick des Bunten der Neugier und dem Genuss der Betrach-
tung hinzugeben. Was geschichtlich aufgenommen wird, soll Anreiz werden; es soll
uns entweder aufmerksam machen und erwecken oder infrage stellen. Es soll nicht
gleichgültig nebeneinander her gehen. Was nicht schon faktisch in der Geschichte in
Beziehung und Austausch gekommen ist, soll von uns miteinander zur Reibung ge-
bracht werden. Das sich Fremdeste soll aufeinander Bezug gewinnen.
Alles kommt dadurch zusammen, dass es in dem einen Ich des Verstehenden auf-
genommen wird. Mit sich einstimmig werden, heisst, das eigene Denken zu bewähren
dadurch, dass das Getrennte, Gegensätzliche, Sichnichtberührende auf ein Eines be-
zogen wird. Die Universalgeschichte, sinnvoll angeeignet, wird zu einer wenn auch
immer offenen Einheit. Die Idee der Einheit der Philosophiegeschichte, ständig in der
Realität scheiternd, ist das Vorantreibende in der Aneignung.
So wird die Geschichte, nachdem sie erweckte, schliesslich zum Spiegel des Eige-
nen, Gegenwärtigen. Im Bilde schaue ich an, was ich selber denke.
Fasse ich zusammen, was Philosophiegeschichte für uns bedeutet. Sie ist das Ganze
einer Autorität, aber ohne Fixierung. Sie ist der Raum, in dem ich denkend atme, er-
wache, zu mir komme. Sie zeigt Vorbilder für das eigene Suchen, in geschichtlicher,
nicht nachahmbarer Vollendung. Sie stellt in Frage durch das, was in ihr versucht
wurde, gelang und scheiterte. Sie ermutigt durch das sichtbare Menschsein Einzelner
in ihrer Unbedingtheit auf dem Gang ihres Weges.
Eine alte Philosophie als die unsere nehmen, das ist so wenig möglich, wie ein al-
tes Kunstwerk noch einmal hervorzubringen. Man kann es nur täuschend kopieren.
Wir haben keinen Text wie die frommen Bibelleser, in dem wir die absolute Wahrheit
hätten. Daher lieben wir die alten Texte, wie wir alte Kunstwerke lieben, wir versenken
uns in sie, greifen zu ihnen, aber es bleibt eine Ferne, etwas Unerreichbares oder auch
etwas, das wir garnicht erreichen wollen, etwas, in dem wir den Absprung zum eige-
nen Philosophieren gewinnen.
So ist es ein Grundcharakter des philosophierenden Menschen, wie er mit den al-
ten Texten umgeht. Offenbar auf höchst mannigfache Weise. Aller Umgang aber be-
ruht auf Interpretation.
2. Interpretation
Mittelpunkt philosophiegeschichtlicher Orientierung ist das Studium der Texte. »Das
Wort« ist auch für das Philosophieren der Leitfaden.
a. Endziel: Teilnahme an der ewigen Gegenwart des Wahren. - Man muss lernen,
verstehen, aneignen, um in die Sache zu kommen. Zu lernen sind die Sprachen und
 
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