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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0542
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Grundsätze des Philosophierens

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schichtliche Anschauung dadurch real im geringsten vermehrt würde. Phantasie kann
im Gegebenen lebendig machen, nicht über das Gegebene hinausführen. Alle nur aus-
füllenden Gebilde sind in der Tat Leerheiten, die einen Augenblick täuschen können,
aber alsbald einen faden Geschmack hinterlassen.
Wo Anfänge überliefert sind, hat es einen besonderen Reiz, sie zu verstehen. Wie et-
was zuerst auftritt[,] ist unersetzlich. Zwar ist überall bei wesentlichen Texten das Ein-
dringen eine unendliche Aufgabe. Die Unaufdeckbarkeit des Ursprungs liegt in unse-
rer Zeitsituation. Wir gehen auf den Ursprung zu und existieren aus ihm, aber wir haben
ihn nicht als allgemein aussagbaren Gegenstand vor Augen. Daher ist die Auslegung,
was Plato, was Kant eigentlich gemeint haben, unvollendbar, sobald nicht nur die be-
wusste Meinung im Wortsinn eines Satzes, sondern die Sache selbst in ihrem Umgrei-
fenden getroffen werden soll. Aber das Eindringen in die frühen Texte der Anfänge
bringt dazu noch die Aufgabe, das erste Aufleuchten, den unvermittelten Einfall, die
unmittelbare Anschauung zu verstehen. Jedoch ist im Wesentlichen die Aufgabe des
Verstehens früher und später Texte die gleiche. Der Ursprung ist unter allen Bedingun-
gen des Daseins, am Anfang und am Ende, der gleiche. Seine Erscheinung und der Weg
zu ihm im Denken sind ausserordentlich verschieden.
f. Entwicklung. - Es sind Gestaltenfolgen in der Philosophiegeschichte zu beobach-
ten, z.B. der Weg Sokrates - Plato - Aristoteles, der Weg von Kant bis Hegel, von Locke
bis Hume. Aber schon solche Reihen sind fragwürdig. Das jeweils Neue wird aus dem
Vorhergehenden nicht begriffen, das Wesentliche im Vorhergehenden ist oft verlassen
oder schon von den ersten Nachfolgern nicht verstanden.470
Es gibt Welten geistigen Austauschs, die für eine Weile sich halten, in die hinein der
einzelne Denker sein Wort spricht, so die griechische Philosophie, die Scholastik von
Anselm bis Occam, die »deutsche Bewegung« von 1760-1840. Es sind Zeitalter lebendi-
gen Austauschs im ursprünglichen Denken. Dann gibt es andere Zeitalter, wo die Phi-
losophie als Bildungsphaenomen fortdauert, andere, wo sie fast verschwunden scheint.
Durchaus irreführend ist der Aspekt einer Totalentwicklung der Philosophie, etwa
in Analogie zur Wissenschaftsgeschichte. Die Philosophiegeschichte ist ungemein ver-
wickelt in ihrer Erscheinung. Sie ähnelt der Kunstgeschichte durch Unersetzlichkeit
und Einmaligkeit ihrer höchsten Werke (wir sind heute nicht weiter als Plato).471 Sie äh-
nelt der Wissenschaftsgeschichte darin, dass eine Struktur von Kategorien und Metho-
den in ihrem Grunde liegt, die sich vermehren, differenzieren, bewusster zu handha-
ben sind. Sie ähnelt der Religionsgeschichte durch eine Folge ursprünglicher
Glaubenshaltungen, die sich in ihr gedanklich aussprechen.
Auch Philosophiegeschichte hat wie alle Geistesgeschichte ihre hohen schöpferi-
schen Zeitalter. Aber Philosophie ist jederzeit ein Wesenszug des Menschen. Und abwei-
chend von anderer Geistesgeschichte kann in vermeintlichen Verfallszeiten plötzlich
ein Philosoph ersten Ranges auftreten. Jederzeit ist philosophisch das Ausserordentli-
 
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